Wolf Singer

Neurophysiologe
Geboren 9.3.1943
Mitglied seit 2003

Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie,
großen und herzlichen Dank Ihnen fürs Dabei sein dürfen.
Es ist dies eine wunderbare, weil seltene Gelegenheit, an den Anfang zurück zu denken, wo es doch sonst immer um das Erreichte geht.
»... und deshalb sehe er sich gezwungen, Sieglinde Singer, die Ehefrau des jungen Arztes, der sich in der Gemeinde niederlassen wolle, zu exkommunizieren, auch wenn ihr Vater, der Oberlehrer, sich als Organist, und ihre Mutter, die Handarbeitslehrerin, sich als Vorsängerin im Kirchenchor für die Christengemeinde verdient gemacht hätten.« So die Urteilsverkündigung, mit der Hochwürden, der Pfarrer einer kleinen Dorfgemeinde im Oberbayrischen, 1945 eine seiner Predigten, damals noch von der Kanzel gesprochen, beendete, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Der Grund war ich, oder vielmehr der falsche Glaube des damals zweijährigen Buben, der in den Kriegswirren nach protestantischem Ritual getauft worden war wie der Vater, und nicht nach katholischem, wie die Mutter. Als zugereister, protestantischer Sachse mit einer exkommunizierten Bajuvarin eine Landarztpraxis zu begründen – aussichtslos von Anfang an. Ob man da nichts machen könne? Natürlich, so Hochwürden, eine Petition an das Erzbistum München-Freising, der Bube solle katholisch werden, mehr sei nicht von Nöten. Und so begab es sich, daß ich, ohne neuer Sakramente zu bedürfen, neue Papiere mit neuen Stempeln erhielt und hinfort wohlig eingebettet in meine Dorfgemeinde an allen, die Bubenseele wärmenden Riten teilhaben durfte, allen voran die langen abendlichen Wege zu den Maiandachten in entlegenen Kirchlein und Kapellen, wo in wunderbarer Vielstimmigkeit – es waren, wie ich heute weiß, meist große und kleine Terzen – »Meerstern ich Dich grüße« gesungen wurde. Die Idylle nahm ein jähes Ende, als der Zehnjährige, weil es in erreichbarer Nähe keine weiterführenden Schulen mit Latein im Lehrplan gab, nach Neubeuern mußte, ins Landschulheim, ein Schloß auf einem Moränenfels im Inntal, mit Blick auf den Großvenediger, – dem gleichen Blick, den der Georg-Kreis genossen hatte, wenn er sich bei der Gräfin traf, bevor sie im Schloß die Schule gründete –, und Teile des Rosenkavaliers hätte Strauß dort niedergeschrieben – so die mündliche Überlieferung. Ich kenne keinen Ort im Alpenvorland, an dem der Blick freier wäre. Dort lebte ich dann die nächsten neun Jahre, traf auf Kinder, die Hochdeutsch sprachen, aus großen Städte kamen, Eltern hatten, die der Beruf in ferne Länder zwang, und manche hatten offenbar gar kein richtiges Zuhause und wußten nicht wohin in den nächsten Ferien. Von nun an keine Nacht alleine, zu acht im Zimmer am Anfang, zu viert am Ende, jedes Jahr neu gemischt, jedes Jahr neue Eltern. Das Ich hat es nicht leicht, sich zu finden, sich nicht in diesen übergeworfenen Beziehungsnetzen zu verheddern, legt Schalen um sich –, nirgends als in solch dichten Gemeinschaften kann Einsamkeit so groß, so kostbar und zugleich so schmerzvoll sein.
Endlich dann die erträumte Freiheit, damals wie heute, die Monate zwischen Reifeprüfung und Studium, zeitloser Raum, Welt, Zukunft, alles offen, zwei Monate mit Zelt zum Nordkap, erfahren, wie Leben sich anfühlt, wenn Tag und Nacht ineinander fließen, nicht mehr durch Glockentöne getrennt werden. Obgleich die anstehenden Entscheidungen das weitere Leben festlegen werden, wie sich im Nachhinein feststellen läßt, fallen sie leicht, erscheinen reversibel.
Hehre Motive für die Wahl der Medizin, die Wissenschaft, die den Menschen in seiner organischen und psychischen Verfaßtheit begreifen will und sich per Eid verpflichtet, ihr Wissen nur dem Guten dienstbar zu machen – so die Rationalisierung der uneingestandenen Prägung, die macht, daß Kinder von Ärzten Ärzte werden wollen. Ein Seminar, moderiert von zwei leidenschaftlichen Lehrern, Otto Creutzfeldt, dem Neurophysiologen, und Paul Matussek, dem Psychoanalytiker, über die neuronalen Grundlagen der Schizophrenie, wurde zum alles weitere bestimmenden Schlüsselerlebnis. Einte die beiden Protagonisten so gegensätzlicher Betrachtungsweisen der conditio humana doch offensichtlich die Überzeugung, res cogitans und res extensa stünden miteinander in Verbindung, und weit mehr noch, die Verbindung könnte kausaler Natur sein, die psychischen und mentalen Qualitäten, bis hin zur Struktur der Persönlichkeit eines Menschen wären Hervorbringungen der neuronalen Vorgänge im jeweiligen Gehirn. Die Fehlwahrnehmungen und Denkstörungen schizophrener Patienten sollten sich erklären lassen durch Fehlfunktionen der Nervennetze, die uns befähigen wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, zu entscheiden und zu handeln: Es war Emil Kraepelins Vermächtnis einer biologisch begründeten Psychiatrie – Nomen est Omen, das Seminar ereignete sich im Max-Planck-Institut für Psychiatrie, dem Kraepelinschen Institut in München-Schwabing. Ab jetzt stand für mich fest, der ich Teilhard de Chardin gelesen hatte und die Phänomene der dinglichen und geistigen Welt als kohärent empfand, daß ich die Prozesse mit erforschen wollte, die aus Materie Geist hervorbringen. Wieviel mühsames Mosaiksteinchen-Sammeln damit verbunden, und wie überwältigend groß die methodischen und gedanklichen Probleme sein würden, war für mich damals nicht erahnbar. Damit nicht alles vergebens sein würde, was ich vorher gelernt hatte, arbeitete ich noch zweimal in der Woche als Landarzt in der väterlichen Praxis, bis mich der Ruf an das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in die Diaspora nach Frankfurt verschlug. Alles, was dazwischen lag und danach, ist Folge dieses einen Seminars und in meiner Vita nachzulesen, mit Ausnahme des Begebnisses, das mir meine Frau und in der Folge meine zwei Töchter bescherte. In London stahl jemand, Zufall oder Vorsehung, die Handtasche einer französischen Studentin aus meinem Volkswagen, wir waren von Cambridge ins Konzert gefahren. In dieser Tasche befanden sich Paß und Flugschein für die morgige Abreise, die junge Dame mußte auf der Insel bleiben. Ähnlich alleatorisch erscheinen mir im Rückblick alle anderen wichtigen Ereignisse meines Lebens.