Michael Stolleis

Jurist und Rechtshistoriker
Geboren 20.7.1941
Gestorben 18.3.2021
Mitglied seit 2002

Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung!
Sie haben mich in Ihren Kreis aufgenommen. Dafür danke ich Ihnen.
Sie haben einen Juristen (genauer: einen Rechtshistoriker) gewählt, einen, der seine Wurzeln im ländlichen Milieu hat, in der Pfalz, überhaupt in Süddeutschland, aber vom Ländlichen auch distanziert durch die frühe Sehnsucht zu schreiben, irgendwie in der Sprache zu leben, Bücher zu machen. Das beginnt, wie üblich, mit exzessiver Lektüre und mit eigenen Versuchen, gefolgt vom langsamen Gehenlernen in den spanischen Stiefeln der Jurisprudenz. 1961 begegnete ich in Heidelberg Erwin Walter Palm. Der junge, gerade der Schule entronnene Provinzler staunte den Lorca-Übersetzer Palm als wahres Bildungswunder an, ohne wirklich etwas zu verstehen, aber vielleicht geimpft mit einer »Idee«, was ein Leben in der Sprache bedeuten könnte. Mein eigentlicher Begleiter in die Wissenschaft war dann der schwedische Rechtshistoriker Sten Gagner, dessen Wohlwollen und feste Freundschaft mich dreißig Jahre lang getragen haben. Er verkörperte die europäische Rechtsgeschichte des Mittelalters, war polyglott und methodisch ein sensibler Wort- und Kontextanalytiker im Sinne Ludwig Wittgensteins.
Was aus diesen Anstößen geworden ist, wie sie sich vermischten mit Eigenem, vermag ich aus Mangel an Distanz nicht zu sagen. Aber ich kann andeuten, was die bewegenden Motive des Schreibens waren und sind. In den sechziger Jahren musste man sich (eine gewisse Empfindlichkeit vorausgesetzt) mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, musste sich Luft machen, Fenster nach draußen öffnen, ein paar Trittsteine im Sumpf des Schweigens schaffen. Das war auch, aber nicht primär, eine politische Position, vor allem begründete es ein tiefes Misstrauen gegen eine verbreitete Phraseologie in der öffentlichen Sprache und ebenso im Fachjargon der Jurisprudenz, speziell wenn es um den Nationalsozialismus ging.
Dann weiter: Ausgedehnte Wanderungen durch die juristischen und politischen Texte des 17. bis 20. Jahrhunderts, wobei mir vorschwebte, Ideengeschichte, Rechts- und Sozialgeschichte samt Politik auf einer Fläche (eben dem zu beschreibenden Blatt Papier) zusammenzubringen. Nah- und Fernsicht Mikro- und Makroperspektive sollten sich vereinen, sozusagen Hehres & Triviales auf einem Teller, die gute Anekdote ebenso aufbewahrend wie die ordnende Theorie. Diese Fata Morgana lockt einen dann weiter hinein in die Wüste der Quellen, eine Wüste, die eben auch Oasen mit Quellen enthält.
Unweigerlich nimmt man auf solchen Wanderungen auch den fiktiven Charakter von Geschichtsschreibung wahr. Geschichtsschreibung fördert nicht, wie viele meinen, »Wahrheit« oder »Tatsachen« zutage, sondern sie ist ein an Texte gebundenes, methodisch kontrolliertes Kunstprodukt. Verstehen, Aufschreiben, erneute Lektüre hunderte von Jahren später, erneutes Verstehen oder Mißverstehen, erneutes Aufschreiben. Wir blicken sozusagen in einen Mischkessel permanenter historischer Selbstzeugnisse, Deutungen und Mißverständnisse, aus denen wieder die neue anfechtbare Deutungen unserer Vergangenheit aufsteigen.
Es wird Sie nach solcherlei Bekenntnis zum fiktiven Charakter historiographischer Texte nicht wundern, wenn nicht die Säure der Skepsis gegenüber »Wahrheiten« auch die Rechtswissenschaft und ihre Aussagen angefressen hätte. In der Tat halte ich nicht viel vom sog. Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, halte sie eher für eine ehrenwerte, vernünftige, pragmatische, menschenfreundliche »sprachliche Vermittlungskunst«. Also mehr »ars« und »prudentia« als »scientia«. Wenn die von uns allen gelebte Rechtsordnung die Streitenden befriedet und die Gewalttätigen zügelt, wenn die notwendigen Entscheidungen so begründet werden, dass die Mehrheit zustimmen kann, dann ist viel geleistet. Denn das »System Recht« ist eine alles durchdringende, stets zu erneuernde kollektive Verabredung, gewisse Regeln und Texte für verbindlich zu halten. Recht ist vereinbarte Sprache. Das gilt für das derzeit malträtierte Völkerrecht ebenso wie für das Verfassungsrecht, bis herunter zum kleinsten Verwaltungsakt und zum gerichtlichen Urteil. Rechtspflege ist auch Sprachpflege. Die Präzision, Anschaulichkeit und Klarheit des sprachlichen Ausdrucks ist das unverzichtbare Medium des Rechtsstaats.
Aber genug hiervon. Es ist eine mich beglückende Auszeichnung, Mitglied der Akademie sein zu dürfen. Sie haben den Vertreter eines in diesem Kreis etwas ungewöhnlichen Berufs aufgenommen, vor allem aber einen schreibenden Leser und lesenden Schreiber. Nochmals meinen Dank!