Ralph Dutli

Schriftsteller und Übersetzer
Geboren 25.9.1954
Mitglied seit 1995

Johann-Heinrich-Voß-Preis
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Es gibt auf dem Pariser Friedhof Montparnasse die merkwürdigsten Gräber. Zum Beispiel jenes eine ohne Geburts- und Todesjahr und anonyme, auf dessen schwarzem Stein nüchtern zu lesen steht: »La vie ne meurt pas« (Das Leben stirbt nicht). Wie lyrisch dagegen der Grabspruch César Vallejos: »J'ai tant neigé pour que tu dormes« (Ich habe so viel geschneit, damit du schlafen kannst). Baudelaire muß in letzter Unbehaustheit im Grab seines verhaßten Stiefvaters liegen, des Général Aupick, doch bekommt er dafür noch immer Blumen von ungefähr Achtzehn- bis Dreiundzwanzigjährigen und Botschaften in japanischen Schriftzeichen.
Der Übersetzer ist nicht nur der bekannte Fährmann zwischen den Sprachen, sondern auch zwischen den Lebenden und den Toten – und der Essayist ist ohnehin ein Übersetzer. Das meiste von dem, was ich übertragen oder geschrieben habe, entstand in der Stille der Großstadt, und in der Nähe der Toten. Zuerst an der Rue de la Tombe-Issoire, ein paar bescheidene Meter über den Pariser Katakomben, dann an der Rue de Grancey, in unmittelbarer Nachbarschaft des Friedhofs Montparnasse, auf dem ich so oft spazierenging, wenn die Arbeit stockte oder wenn ich Luft brauchte.
Ich bin 1954 im Norden der Schweiz, in Schaffhausen, geboren worden, habe von 1974 bis 1980 in Zürich und Paris französische und russische Literatur studiert. 1982 fuhr ich nochmals »für ein paar Monate« nach Paris und blieb zwölf Jahre. Diese Zeit war geprägt von dem einen großen Projekt der Übertragung der Werke Ossip Mandelstams, des russisch-jüdischen Dichters, der 1938 in Stalins eisigem Gulag-Dschungel umkam, in einem Zwangsarbeiterlager bei Wladiwostok, weil er in einem Epigramm von 1933 den Diktator als »Seelenverderber und Bauernabschlächter« entlarvt hatte. Daß nicht mir das Verdienst zukommt, diesen Dichter für den deutschsprachigen Raum entdeckt zu haben, sondern Paul Celan mit seinen ersten Übertragungen von 1959, habe ich immer mit Freude hervorgehoben – etwa in meinem zum 50. Todestag Mandelstams 1988 erschienenen Lesebuch Im Luftgrab.
Ab 1981 begann ich, nach vielem Lesen, Lesen und Hören (denn Übersetzen bleibt für mich ein musikalischer Vorgang), selber mit Übertragungsversuchen, 1983 und 1984 erschienen in der Bibliothek Suhrkamp erste Auswahlbändchen. Es war jedoch Egon Ammann in Zürich, der ab 1985 meine Mandelstam-Ausgabe, die inzwischen beim achten Band angelangt ist, und meine drei Bücher über diesen russischen Dichter engagiert und liebevoll verlegte.
Natürlich habe ich immer wieder vereinzelte Gedichte anderer Dichter übertragen und Essays über sie geschrieben, Gedichte der geliebten Provenzalen des Mittelalters, der Troubadours Guilhem von Aquitanien und Peire Vidal, Gedichte von John Donne, von Verlaine und Desnos, von Achmatowa und Zwetajewa, Jessenin und Brodsky. Vereinzeltes nur. Von Mandelstam aber wollte ich alles. Nennen Sie es Mandelstam-Monomanie, oder Besessenheit, ich gestehe hier schlicht, daß ich diesen Dichter noch immer liebe und diese starrköpfige Liebe mit anderen Lesern deutscher Zunge und deutschen Gehörs gern zu teilen gewillt bin.
Zwei Wege bin ich also gegangen, den der Übertragung und den des deutenden, sich vortastenden Essays. Das eine hat das andere befruchtet und notwendig gemacht. Zehn Jahre nach meinem ersten Buch über Mandelstam, das seinem Dialog mit französischen Dichtern vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert gewidmet war, erschienen 1995 meine verstreuten Essays über Mandelstam unter dem Titel Europas zarte Hände. Ich habe immer wieder betont, daß Mandelstam ein europäischer, europäisch gestimmter Dichter sei, und daß er Brücken schlage zu uns, nach Westeuropa.
Zwischen diesen beiden Büchern, 1991, zum 100. Geburtstag Ossip Mandelstams, hatte ich Lust, auf essayistischem Wege diesem Dichter eine symbolische Geburtstagsmahlzeit auszurichten, einem Dichter, der oft gehungert hat, dem jedoch bei aller Tragik seines Schicksals das Kunststück gelungen ist, ein lebensfroher und humorvoller Dichter zu sein und ein Werk zu schaffen, das Hinwendung zum Leben ist, Feier des Diesseitigen, Irdischen, Nahr- und Schmackhaften. So entstand mein Buch Ein Fest mit Mandelstam (Über Kaviar, Brot und Poesie).
Seit 1994 lebe ich nun in Heidelberg, genieße nach den zwölf Jahren in Frankreich den erneuten Aufenthalt im deutschen Sprachraum. Das Ganze hatte ja etwas Verqueres, aber auch Inspirierendes. Je ein Großelternteil mütterlicherseits und väterlicherseits war bei mir italienisch, es waren italienische Einwanderer in die Schweiz, und ich war nach Frankreich ausgewandert, um dort, in der besagten Pariser Stille, einen russisch-jüdischen Dichter ins Deutsche zu übertragen, der zu allem im November 1933 – fast zeitgleich mit dem fatalen Epigramm auf Stalin, und durchtrieben ironisch – geschrieben hat:

Und vielleicht schon in dieser Minute
Überträgt mich ins türkische Wort
Ein junger Japaner, der gute –
Begriff meine Seele sofort.

Ich hatte große Lust, für eine ganze Weile meines Lebens ein junger Japaner zu sein. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Aufnahme in Ihre Akademie.