Harald Hartung

Lyriker und Literaturwissenschaftler
Geboren 29.10.1932
Mitglied seit 1997

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Angst – wenn ich mit solch einem Wort anfangen darf – Angst kannte ich schon früh, aber nicht die Angst vorm schwarzen Mann. Denn unter den Männern, in deren kohlenstaubschwarzen Gesichtern weiß die Augen rollten, wenn sie aus dem Schacht der Zeche »Friedrich der Große« ans Tageslicht kamen, war auch mein Vater. Manchmal (o holde Kunst der Verwandlung!) stand er auf der Bühne des Bergarbeiter-Musikvereins, ganz hinten hinter seinem Kontrabaß, und ich bewunderte ihn. Aber mit der Musik sollte es bei mir nichts werden. Als mein Vater endlich ein Cello erschwingen konnte, war ich mit reifen sechzehn für Etüden verloren.

Da erwogen die Eltern, ob der Junge nicht nach dem Einjährigen eine Lehre anfangen sollte. Ein Werbemensch war bereit, es mit mir zu versuchen. Ich war ja irgendwie schon im Geschäft, indem ich auf Bestellung Wind- und Wassermühlen, lieber noch Toteninseln pinselte, die der Vater per Fahrrad anlieferte. Ein Lehrer verhinderte meine werbegraphische Karriere. Auch er bestellte etwas: das Libretto für eine Schuloper.

Also doch die Sprache. Ich will nun nicht gerade behaupten, Deutsch sei meine erste Fremdsprache gewesen. Doch es gab einen Widerstand gegen den Griffel, der Ostern 1939 in der Schiefertafel eine veritable Mulde erzeugte. Auch fragte ich mich, ob mein Freund nicht recht hatte, wenn er meinte, mir sei vornehmer als mich. Vielleicht war’s diese Unsicherheit, die mich reizte. Oder die Krankenbettlangeweile, die mich zur Leseratte machte (warum nicht zur Lesemaus?). Oder, nach dem Krieg, in einem Lesesaal, die Zeitschrift Vision, in der auch Gedichte standen. Sogar solche ohne Reim, was mich verwunderte. Als ich’s dann selbst mit dem Gedichteschreiben versuchte, sagte die Mutter: »Das hast du gestohlen.« Sie hatte recht: Literatur entsteht aus Literatur. »Man muß die Kunst entmutigen«, diesen schönen Satz hatte sie nicht parat. Sie sprach von »brotloser« Kunst.

Joachim Ritter in Münster, bei dem ich Mitte der fünfziger Jahre hörte, sprach hingegen von Praxis, von der Praxis des Lebensvollzugs, wozu auch das Hinuntertragen des Mülleimers gehöre. So ging ich in die Praxis, unterrichtete an Höheren Schulen im Ruhrgebiet, an einer Pädagogischen Hochschule und, am längsten, an der Technischen Universität Berlin, insgesamt 38 Jahre und – summa summarum – unbereut. Deshalb, für meine Praxis, haben Sie mich nicht gewählt. Doch wofür denn?

Vielleicht – so leg ich’s mir zurecht – war es das, was nicht Musik werden konnte und nicht Malerei. Ich kann es nur mit den Worten eines Eideshelfers ausdrücken – und in einer fremden Sprache. Im Gedicht des berühmten Landarztes aus Rutherford heißt es: »I am a poet! I am. I am. I am a poet. I reaffirmed, ashamed«. Das möchte ich doch auch sagen dürfen. Und da ich schon bei Williams Carlos Williams bin, nenne ich ihn stellvertretend für jene Art Lyrik, die mir die Augen öffnete und den Blick gab für das gewöhnliche Licht, für das Licht der Gewöhnlichkeit.

Vorher war natürlich Gottfried Benn mein Gott. Ich schrieb ihm keine Ansichtskarte, weil Benn schon Liliencron eine geschrieben hatte. Ich las aber, um mich von ihm zu lösen, Paul Celan und begriff, daß man ein Schicksal nicht imitieren kann. Wenn ich etwas durfte, so dachte ich, war es dies, was Williams tat oder was ich bei Philip Larkin las: »Ich glaube, ich versuche immer, die Wahrheit zu schreiben, und würde kein Gedicht schreiben wollen, das nahelegte, daß ich ein anderer bin als der, der ich bin... Nehmen Sie zum Beispiel Liebesgedichte. Ich würde es als falsch empfinden, ein Gedicht zu schreiben, das vor Liebe für jemand überschäumt, wenn man nicht gleichzeitig die angedichtete Person heiratet und mit ihr einen Hausstand gründet«. Larkin blieb übrigens zeitlebens Junggeselle.

Ich rettete mich in ein Doppelleben, das jederzeit das Verschieben der Legitimation ermöglichte: in die Personalunion als Lyriker und Essayist. Ich wollte ja nicht vom Schreiben leben, sondern durch Schreiben. Aber das ist schon zu pathetisch. Einfach dagegen ist die Rechtfertigung des Kritikers und Rezensenten Hartung. Denn zum Kritiker wird man nicht, dazu wird man gemacht. Und wenn es keinen dichterischen Auftrag gibt, dann gibt es doch – als Forderung des Tages – den Auftrag des Redakteurs. Er braucht jemand, der zuverlässig kritische Ware liefert. Und es macht Spaß, gefragt zu werden, gefragt zu sein. Der tiefere Grund für diese Personalunion ist natürlich die Sache selbst, die Poesie. Wer Gedichte schreibt, will auch den modus operandi erforschen und wissen, was den Raben ins Gedicht bringt. Er kultiviert zugleich den Zweifel am Rezept, nach dem, genaugenommen, nur ein einziges Gedicht, eben The Raven, herzustellen ist. So gibt es das perfekte Gedicht so wenig wie den perfekten Mord. Auch diese Skepsis macht den Kritiker.

Vielleicht stehe ich also hier, weil ich einiges rezensiert habe. Oder weil ich unter dem Titel Masken und Stimmen die Figuren der modernen Lyrik beschrieb. Oder weil ich internationale Poesie anthologisch als Luftfracht expediert habe. Meinem Vater mit dem Kontrabaß würde es gefallen, mich hier in Budapest zu sehen, und ich meine, im genius loci einen kakanischen Sinn für die Ambivalenz jeder Personalunion zu spüren, also auch für das Zweideutige eines Kritikopoeten. Wer so zweideutig erscheint, hat doppelt Grund, einer Akademie zu danken, die ihn in ihre Reihen aufnimmt.