Dževad Karahasan

Schriftsteller und Dramatiker
Geboren 25.1.1953
Gestorben 19.5.2023
Mitglied seit 2013

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
der große Wilhelm von Humboldt hat zu Recht behauptet, dass wir Menschen die Welt so verstehen, sogar so empfinden, wie sie sich uns durch unsere Sprache darstellt. Warum fällt mir das jetzt ein? Ich hoffe, ich möchte glauben, dass Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, meine Gedanken, wenn auch durch sprachliche Fehler verunstaltet, verstehen und nachvollziehen können. Wenn das der Fall ist, kann ich die Welt so verstehen, wie sie sich mir durch die deutsche Sprache darstellt. Wie steht es aber mit dem Empfinden? Wenn ich jetzt versuchen würde, meine Angst vor Vereinfachungen zu artikulieren und zu äußern, zu denen es zwangsläufig kommt, wenn man in einer fremden Sprache spricht, Vereinfachungen also, die ich nicht vermeiden kann – was wäre dann? Würde es bei der bloßen Benennung der Angst bleiben, oder wären Sie wohl imstande, meine Angst nachzufühlen?
Ich kann zweifelsohne nachfühlen, wie einzelne Figuren in den auf Deutsch verfassten Büchern, die ich liebe, sich und die Welt fühlen und empfinden, ich kann sehr wohl auch mit ihnen mitfühlen bzw. ihr Erleben der Welt nachvollziehen, insofern darf ich behaupten, dass ich einigermaßen imstande bin, die Welt so zu empfinden, wie sie sich mir durch die deutsche Sprache darstellt. Kann ich aber mein pathetisches Wesen klar auf Deutsch artikulieren und zum Ausdruck bringen? Bleibt meine Angst vor Vereinfachungen, wenn ich versuche, sie auf Deutsch zu formulieren, nur eine Benennung der Angst, nur ein Wort? Darf ich hoffen, dass diese Formulierungen meinem Gesprächspartner auch eine Form vermitteln, die ihm den Zustand meines Geistes, ein Teilchen meiner pathetischen Seele, nahebringt und verständlich, nachfühlbar macht?
Sprache bewahrt erlebte Zeit, sie ist ein Speicher des Gedächtnisses. Werden in mir Erinnerungen wach und klar vermittelbar, wenn ich Deutsch spreche? Ist mein Gedächtnis in der deutschen Sprache vorhanden? An der elementaren, in Wörterbüchern definierten Bedeutung fast aller wichtigen Wörter meiner Sprache haften geistige Bilder, die meine persönliche Geschichte, mein Erwachsenwerden, mein Kennenlernen der Welt, meine Bildungsgeschichte erzählen. Das Wort bunar ist in meinem Geiste untrennbar mit dem geistigen Bild des Brunnens verbunden, der neben meinem Geburtshaus stand. Und mit diesem geistigen Bild die Sehnsucht nach viel Wasser, Angst vor Dürre ... Erscheint vor meinen geistigen Augen das Bild des Brunnens, den ich als Kind unzählige Male gesehen habe, auch wenn ich Brunnen und nicht bunar sage? Werden meine Sehnsucht nach viel Wasser und meine Angst vor Dürre wach? Ich weiß es nicht, ich kann es, fürchte ich, nicht wissen.
Sprache gehört immer einer Gemeinschaft. Jemand kann eine Sprache für sich haben, nur indem er sie mit anderen, mit allen Angehörigen einer Gemeinschaft teilt. Eine Sprache speichert die historischen Erfahrungen der Gemeinschaft, die diese Sprache ›besitzt‹ bzw. spricht. Historische Erfahrungen bestimmen vieles im Gebrauch der Sprache, bestimmen zum Beispiel, was lieber nicht benannt, sondern durch Umschreibung vermittelt werden sollte, wie und wann ein Wort durch ein anderes ersetzt werden soll, wie manche Wörter und Begriffe betont werden sollen und wie die Betonung die Bedeutung eines Wortes verändern kann. Historische Erfahrungen funktionieren beinahe als verborgene Grammatik vieler wichtiger Sprachspiele, die mit der Literatur viel zu tun haben und der Literatur sehr dienlich sein können. Schwingen die historischen Erfahrungen meiner Gemeinschaft mit, wenn ich Deutsch spreche? Einer kleinen Gemeinschaft, die über hundert Jahre lang als unerwünschte Minderheit in verschiedenen Staaten lebte? Kann mein deutschsprachiger Gesprächspartner die Sprachspiele verstehen, die mir die historischen Erfahrungen meiner Gemeinschaft beigebracht haben und die ich mir so weit angeeignet habe, dass sie schon Teil meiner selbst sind? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen.
Aber ich weiß, dass die wunderbare Kunst des Übersetzens all das möglich macht. In einer guten Übersetzung bewahrt mein Text die historischen Erfahrungen meiner Gemeinschaft und meine persönliche Geschichte; in einzelnen Wörtern und Sätzen ist alles vorhanden, was meine Sprache gespeichert hat – alle Erinnerungen, kulturellen Veränderungen, Rituale und Traumata. Übersetzung macht es möglich, in einer fremden Sprache zu Gast zu sein, eine gute Übersetzung macht es möglich, sich als Gast willkommen und sehr wohl zu fühlen. Ich fühle mich als Gast in der deutschen Sprache sehr wohl und werde mich bemühen, ein willkommener Gast zu sein und zu bleiben. Ich bedanke mich ganz herzlich für die mir geschenkte Zeit und Aufmerksamkeit.