Tankred Dorst

Schriftsteller
Geboren 19.12.1925
Gestorben 1.6.2017
Mitglied seit 1977

Georg-Büchner-Preis

Ich bin geboren in einem Dorf am Thüringer Wald, auf der fränkischen Seite. Die Einwohner des Dorfes waren Bauern oder verdienten ihr Brot mit Heimarbeit in der Spielzeugindustrie oder sie arbeiteten in der Maschinenfabrik. Die Maschinenfabrik war von meinem Großvater. Von diesem Großvater, den ich nicht gekannt habe, hat sich mir eine feste Vorstellung eingeprägt: Er sitzt, ein riesiger weißhäutiger Mann in einer Sitzbadewanne auf einer Wiese im Garten, er sitzt im sonnengewärmten Wasser. Er war wohl auf seine Art ein Naturmensch und Naturapostel, er glaubte inbrünstig an die körperliche und geistige Gesundheit des Menschen und er fand, daß Krankheit ein Verbrechen sei. In eine schwarze Kalliko-Kladde schrieb er Sinnsprüche und Lebensregeln, nach denen er sich auch richtete. Ich habe sie, als ich ein Kind war, im Dämmerlicht des großen Bodenraums, wo es nach Kamille roch, abgeschrieben. Seine Söhne – auch mein Vater – starben an Tuberkulose, die Krankheit ist in unserem Haus meine ganze Kindheit hindurch tabu gewesen. Kriegsanfang war ich dreizehn, die Führerrede wurde in den Physiksaal übertragen. In diesen Jahren war ich wohl von einer großen pubertären Todessehnsucht erfüllt, ich lief in den nassen Wiesen herum (da, wo jetzt die DDR-Grenze die Länder und Ansichten teilt), ich schrieb an die Dichterin Lulu von Strauß und Torney, die ich verehrte, ich fühlte mich als die einsame Ausnahme, ich wollte vom Himmel ins Meer fallen, mich opfern, der Krieg, der auf mich zukam, sollte die Gelegenheit dazu geben. Das Ende des Krieges habe ich in Amerika erlebt: ich erinnere mich, wie ich in Amerika ankam. Es hieß: wir dürfen New York sehen, und so schob sich langsam eine Schlange aus den unteren Decks, wo wir viele Tage und Nächte verbracht hatten, über schmale Gänge und eiserne Treppen hinauf und plötzlich war oben die Nacht über mir und die Stadt ringsum riesig erleuchtet, im Friedensglanz, und das Schiff glitt lautlos langsam mitten hinein. Eine Stadt, die nachts nicht in der Finsternis lag, das war etwas außerhalb der Welt, die ich kannte. In den Gefangenschaftsjahren habe ich viel gelesen, alles, was mir erreichbar war, Traktate von Sekten und Dostojewski, Toller und »Flachsmann als Erzieher«, Zweig, Werfel, Heine, die eigentliche und bis dahin mir unbekannte deutsche Literatur; und es ist das enge Zusammenleben im Lager mit sehr verschiedenartigen Menschen, die Arbeit in den Fabriken, auf Farmen, an den Eisenbahnschienen meine eigentliche Lehrzeit gewesen. Einmal mußten wir einen Graben ziehen unter einem Haus durch, das auf Betonklötzen stand. Unter diesem Haus, im Halbdunkel, dem Posten unsichtbar, habe ich zusammen mit einem Mitgefangenen abwechselnd schaufelnd und vorlesend das Buch kennengelernt, das mich damals und weithin in mein Leben am meisten beeinflußt hat: den Zauberberg; zwei gelbe, taschenbuchähnliche Bände, wir hatten sie, als wir schließlich am andern Ende des Hauses wieder auftauchten, nahezu zu Ende gelesen.
Nach der Entlassung habe ich mich eine Zeitlang herumgetrieben, wußte nicht, was ich anfangen sollte, ohne Abitur, ohne Geld oder Beziehungen. Hin und her über die Zonengrenze, Schmuggel, Schwarzmarkt. In Wuppertal sagten mir zwei Schauspieler: schreib Kabarett für uns, wir müssen ja leben. Ich konnte aber nichts schreiben, ich war nicht witzig genug. An die Währungsreform erinnere ich mich, ich erinnere mich an die Juninacht unter den Büschen hinter dem Münchner Hildebrandtbrunnen, da lag ich und hörte vom Bahnhof herüber das Geschrei und den Lärm, dort stürmten die Menschen die letzten abfahrenden Züge, um nach Haus zu kommen. Abitur im Münsterland. Studium in München bis in die Mitte der fünfziger Jahre. Ein Mitstudent, der im Krieg ein Bein verloren hatte, sagte: ich genier mich, noch länger in die Uni zu gehen. Die Einbeinigen waren aus den Hörsälen verschwunden, die Nachkriegszeit war zu Ende. Fertig studiert habe ich nicht. Ich blieb in meinem kalten Zimmer, deckte mich mit dem Teppich zu und hatte keine Vorstellung davon, wie ich mein Leben weiterbringen sollte. – Dann erscheint, zuerst von oben gesehn, vom Fenster herunter, ein Dramaturg, er kommt herauf und sagt: mein Entwurf habe gefallen, ob ich Dialoge schreiben könne. Es war in einem Wettbewerb der Entwurf zu einem Stück, nicht ein fertiges Drama gefordert worden. Das Mannheimer Theater hatte Themen ausgegeben, es waren die gängigen Themen der Zeit: Flüchtlingsprobleme, Atombombe, Rassenkonflikt, für die ich mich nicht interessierte. Meine bisherige Erfahrung von der Welt war anders: voller Widersprüche und ohne Kontinuität, und auf eine verzweifelte Weise komisch. So war das erste Stück, das ich für Theater geschrieben habe, eine freie Bearbeitung von Tiecks Gestiefeltem Kater, ein Stück, das auf groteske Weise alle artistischen Möglichkeiten des Theaters zur Schau und zugleich in Frage stellte. Es endete mit einem Streit des durchgefallenen Autors mit dem Publikum darüber, wer sich denn ändern müsse, diejenigen, die das Theater machen, oder diejenigen, die es ansehen. Es gibt keine sicheren Positionen, alles ist Maske, Willkür, Verstellung, und alles ist: Spiel. Auch in den folgenden Stücken drückte sich etwas von diesem Weltgefühl aus, ich habe sie ziemlich schnell hintereinander geschrieben, das nächste immer, um das vorhergeschriebene, das mir nicht mehr gefiel, auszulöschen. Viel waren die Sachen, glaube ich, nicht wert. Ich war auf der Suche nach Realität, ich wollte realistisch schreiben, was mir nicht gelang. Ich wußte zu wenig, oder ich wollte mich auf das, was ich wußte, nicht einlassen. Erst mit Toller, der 1968 herauskam, aber zwei Jahre vorher geschrieben ist, bin ich auf eine wirkliche Realität gestoßen und habe versucht, sie einigermaßen wörtlich in das Stück hineinzuschreiben. Mit der Person Toller habe ich mich damals sehr identifiziert, ich wollte ihn kritisieren, indem ich die überwältigende Realität dieser Zeit und dieser politischen Zustände gegen seine expressionistische, mir zu allgemeine Menschheitsliebe setzte. Ich schrieb süchtig nach wirklichen Menschen Szenen, Szenenfragmente, Bilder, Dialoge auf, einen ganzen Haufen, ich ordnete sie zu einer unordentlichen Revue über die Münchner Räterepublik, von der ich, als ich anfing zu schreiben, sehr wenig wußte; ich lernte, indem ich schrieb. – Für Eiszeit, mein nächstes Stück, ist Knut Hamsun das nichtgenannte, aber wohl erkennbare Vorbild für den alten Schriftsteller gewesen, der störrisch auf seine Richter wartet. Sein politisch schlimmer Irrtum war der Stachel des Stückes, aber nicht sein Thema. Der Eiszeitgreis, der sich in ein Begriffsschema nicht einordnen läßt, war eine Person, die mich irritierte, und diese Irritation wollte ich an den Zuschauer weitergeben. Ich habe das Stück dann auch im Ärger darüber geschrieben, daß man es sich auf dem Theater dieser Jahre so leicht gemacht hatte. Man erfand politische Parabeln nach dem Muster Brechts, man konstruierte Fälle, die etwas von der Bühne herab beweisen sollten, Konstruktionen, in die man Personen nach den Forderungen der Dramaturgie, d. h. der Handlungsführung, einsetzte. »Ein Mensch ist aber etwas Widersprüchliches, ein Konglomerat von vielen Ideen und Empfindungen, und man kann nicht sagen, welche die wichtigsten sind«. Das sagt der Alte im Stück, und ich (obwohl ich mit dem Alten sonst natürlich nicht übereinstimme) meine das auch. – Mit Auf dem Chimborazo, einem Kammerspiel, bin ich von einer konstruierten Handlung noch weiter weggegangen: vier Personen sind da in einem Wald, ihre Geschichte sollte nicht »dramatisch« sein, was da geredet, getan und gedacht wird, an diesem Nachmittag an der deutsch-deutschen Grenze, sollte, so weit das möglich ist, in vollkommener Natürlichkeit geredet und getan werden, etwa nach der Dramaturgie eines Spaziergangs. Zu diesem Stück gehören noch zwei andere, die in nächster Zeit herauskommen und die zusammen so etwas wie eine deutsche Trilogie bilden sollen.
Ich habe bisher nahezu ausschließlich für das Theater geschrieben, einigemale auch mit Theatern direkt zusammengearbeitet, für das Bochumer Theater und für Zadek die Revue Kleiner Mann was nun nach Fallada, für das Frankfurter Theater und für Palitzsch Goncourt oder die Abschaffung des Todes; auch mit Chereau in Mailand und Villeurbanne; ich bin oft – und lieber als zu Aufführungen – auf Proben gewesen, habe während der Proben geändert, hinzugeschrieben, gekürzt, umgestellt – meine Vorstellung von dem, was ich geschrieben hatte, den spezifischen Bedingungen des Theaters angepaßt, manchmal mit Schmerzen. Aber das ist nun so. Ein Theaterstück ist ja nichts Fertiges, auch wenn ich es mit jeder Geste, jedem Schritt, jedem Blick und jedem Schweigen zwischen den Dialogen schon gedacht habe. So viel kommt bei der Inszenierung hinzu und so viele arbeiten mit, bis ein Theaterabend zustande kommt. Der Autor, der für Theater schreibt, muß sich wehren, er unterliegt auch, und er leidet. Aber daß er sich immer wieder auseinandersetzen muß mit den Leuten des Theaters und daß er mit seinem Stück, mit dem Publikum, seinem Feind, unmittelbar konfrontiert ist, an diesem Abend, in diesen drei Stunden (mehr gibt man ihm nicht für diesen Kampf): das, meine ich, bewahrt davor, sich im Esoterischen zu verlieren oder in Zeitferne zu erstarren.