Giuseppe Bevilacqua

Germanist und Übersetzer
Geboren 22.9.1926
Gestorben 3.12.2019
Mitglied seit 1990

Es war ein paar Wochen vor Weihnachten, 1932. Mein Vater bestellte meine Schwester und mich in sein Arbeitszimmer, neben ihm stand eine schlanke blonde Dame, er sagte: »Das ist Fräulein Schachner, sie wird euch Deutsch beibringen, ihr sollt ihr gehorchen und fleißig sein.« Darauf begleitete uns das Fräulein in unser Zimmer, machte einen ihrer Koffer auf und breitete unter unsren Augen eine unbeschreibliche, nie gesehene Menge Feingebäck aus, Biskuitherzchen, Sternchen, Rhomben, Kleeblätter, in Schokolade getaucht, bunt bestreut oder glasiert. Auch hängte sie an den Murano-Leuchter einen seltsamen, grünen Kranz mit dunkelroten Bändern und Kerzen. Frl. Schachner war Kärtnerin, sie erzählte von ihrem bergigen und moosigen Land, der Wetterseite der Alpen für uns Venezianer, aber auch von der fröhlichen Weltstadt Wien: sie hatte die »Welt von Gestern« noch gekannt. Als sie einige Jahre später unser Haus verließ, hatte ich nicht viel Deutsch gelernt, weil ihr selber nicht gerade viel daran gelegen war, es uns beizubringen. Sie war faul. Sie präparierte jeden Tag mit uns Kindern ein paar Sätze, die wir dann aufzusagen hatten, wenn abends am Tisch der Eltern gegessen wurde, damit sie glaubten, daß wir Deutsch fließend sprachen.

Ich vergaß das meiste. Und als ich wenige Jahre später begann, leidenschaftlich Literatur – vor allem Poesie – zu lesen, da galt mein Interesse fast ausschließlich der französischen, der italienischen freilich und wohl auch der spanischen Literatur (denn meine Mutter war in Buenos Aires geboren und aufgewachsen). Allein, es blieb mir von jener ersten Erfahrung aus Kindheit und Vorkriegszeit wie ein Echo, wie die Reue über eine ungelöste Aufgabe: die Ahnung von einer bestrickenden Andersartigkeit, die Neugier, diese Erfahrung aus der Perspektive des Erwachsenen zu betrachten.

Gewiß: Antonio Machados Campos de Castilla, Paul Valérys Charmes, Eugenio Montales Ossi di seppia, das alles reimte sich wunderbar zusammen und ergab eine Dimension, die mir vollständig und einheitlich erschien, etwa wie wenn mein Vater bemerkte, unser Venetien sei im Norden von hohen, herrlichen Bergen umgrenzt, im Westen vom blauen Gardasee, im Süden vom größten italienischen Fluß und im Osten vom Meer. »Und wir sitzen – sagte er – in der Mitte, auf dieser üppigen Ebene, und können abends, wenn wir Lust haben, nach Venedig fahren, ins Theater.« »Uns fehlt nichts ... «, war der Schluß. War das Provinzialismus? Beschränktheit? Oder auch ungetrübter, lebensnaher Besitz und Genuß der eigenen Kultur? Sollte doch war sein, daß die Romanen leichter oder leichtfertiger – vom Germanischen absehen können, als umgekehrt ?

Mag sein, das war aber immer weniger mein Fall; bis die Grammatik von Fräulein Schachner mit den scharf gebrochenen Ecken ihrer Walbaumfraktur ausgegraben und nun eifrig studiert wurde, obwohl manche Seiten zusammengeklebt waren, wegen Honigspuren aus alten Vesperbroten und Jausen. Nun wurde wild drauflos gelesen, auch Schwieriges: Faust I und Hyperion, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Beethovens Briefe. Es war die lang geahnte, allmählich unentbehrlich werdende dritte Dimension: die große Philosophie, die abgründige Musik ... Das Ererbte und Familiäre verlor nicht seine melodische Selbständigkeit, sondern bekam so etwas wie einen Baß, einen unendlich reichen Kontrapunkt: bis dieser seine Selbständigkeit behauptete und die Rollen austauschbar machte. Als es nach vielen Studienjahren in Padua erst der Medizin, dann der Neuphilologie, darum ging, endlich ein Thema für die Dissertation zu wählen, da ging ich zum Germanisten. Gestatten Sie mir seiner zu gedenken, dieses unvergessenen Lehrers, zumal er – Ladislao Mittner – Mitglied dieser Akademie gewesen ist.

Die vorgeschriebenen fünf Minuten habe ich schon überschritten, sonst hätte ich Ihnen erzählen können, welche Folgen für meine germanistischen Studien diese primäre, biographisch und geschichtlich bedingte Konstellation und dieser kulturelle und geographische Untergrund hatten, wie sie sich in Objektwahl und Methode auswirkten. Wenn Sie mir nur noch ein paar Minuten gönnen, würde ich das so zusammenfassen: Erstens, ich suchte das direkt Konträre, ich wollte zu den deutschen Antipoden meiner romanischen Lebenshaltung dringen, und schrieb eine Monographie über Ernst Barlach, den Inbegriff des nordischen Deutschtums, einen Autor, den die alte, vornehme und zarte Germanistin Geneviève Bianquis mit dem Prädikat »saugrenu« bedachte, und sie wunderte sich, daß ich mich damit befasse.

Barlach galt als einer der Begründer des Expressionismus, wiederum etwas spezifisch Deutsches. Aber was war eigentlich dieser Expressionismus gewesen? Um mir selbst etwas Klarheit darüber zu verschaffen, machte ich mehr als einen Schritt zurück: das Ergebnis war ein Buch über Gesellschaft und Literatur im Kaiserreich, was auf die zweite Folge hinweist, denn – beugt man sich über etwas, das uns kontrastiv anzieht – dann will man wissen, wie das entstehen konnte. Wert hat für mich seitdem eher die Ätiologie der literarischen Erscheinung als die Rezeption, eher das Ante-Faktum als das Post-Faktum. Auch stehe ich skeptisch, oder gar ablehnend der Vorstellung gegenüber, die literarische Geschichtsschreibung sei nunmehr obsolet geworden.

Die dritte und letzte, diesmal reaktive Folge, die ich noch kurz erwähnen möchte, ist etwas, was man auch das Privileg des Konkreten in der Textauslegung nennen könnte, was wiederum vielfach mit Entstehungsgeschichte zu tun hat. Diese Tendenz hat mich immer begleitet, von den fernen Tagen, als ich gleichzeitig mit Karl Kerényi und Beda Allemann im Streit um die neuentdeckte Friedensfeier die sogenannte Napoleonthese vorschlug, bis zum heutigen Tag, wo ich bei der Interpretation von Paul Celans Gedichten ständig das Vorrecht des Realen und Erlebten, des Buchstäblichen und Eigentlichen geltend mache; und dabei nicht selten mit deutschen Interpreten in Kontrast gerate.

Diese meine Tendenz kann man wohl auch, wenn man so will, einer italienischen »Sinnlichkeit der Intelligenz« zuschreiben. Andererseits: hat man nicht schon Folgendes auf Deutsch geschrieben? »Alles Lebendige strebt zur Farbe, zum Besonderen, zur Spezifikation, zum Effekt [...] Alles Abgelebte zieht sich nach dem Weißen, zur Abstraktion, zur Allgemeinheit.« Dieses Wort – Sie werden es erkannt haben – steht in der Farbenlehre: es kommt also von demjenigen, in dessen Denken und Dichten, in dessen Lebenserfahrung Deutsches und Italienisches in einem einzigen Licht aufgegangen sind.

Ich danke Ihnen herzlich.