Rüdiger Safranski

Literaturwissenschaftler und Schriftsteller
Geboren 1.1.1945
Mitglied seit 2001

Der Anlaß, nach Turin zu kommen, ist diesmal besonders erfreulich. Es ist schon etwas Besonderes, auf italienischem Boden in die »Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung« aufgenommen zu werden. Bedenklich allerdings ist für jemanden, der vor kurzem ein Buch über Friedrich Nietzsche veröffentlicht hat, der Ort. Denn hier immerhin – wie der Fall Nietzsche zeigt - kann es einem geschehen, daß man nach Umarmung eines Pferdes wahnsinnig wird. Aber ich denke, eine Akademie wie diese bewahrt vor solchen Tollheiten, da sie ja den disziplinierten Wahn, auch unter dem Namen »Dichtung« bekannt, unter ihre Obhut genommen hat.
Um ehrlich zu sein - was mich betrifft, bin ich doch nicht so schutzbedürftig. Das liegt daran, daß ich mich bemühe – und darin vielleicht sogar eine gewisse Fertigkeit erlangt habe – in zwei oder gar in mehreren Welten zu leben.
Es gibt Leute, bei denen schrillen Alarmglocken, wenn sie vom »Einbuch einer Mystik« hören, vom »Verzaubern« und »Entrücken«. Den Figuren, über die ich geschrieben habe – E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche – gehören zu den üblichen Verdächtigen in diesem Sinne.
Tatsächlich ist es ein Grundmotiv meines Schreibens, über jene Balance nachzudenken zwischen »Mystik«, »Entrückung« – oder wie immer wir es nennen - und realitätstüchtiger Rationalität andererseits. Ich glaube, daß wir beides brauchen. Die Figuren, mit denen ich mich beschäftige, haben diese Balance anregungsreich vorgelebt, vorgedacht und vorgeschrieben. Sie wollten in einer säkularisierten, entzauberten Welt, den Fuß in der Tür behalten, um nicht in der Eindimensionalität und Banalität gefangen sitzen zu bleiben.
Was »Mystik« und „Entrückung“ betrifft, so bin ich, Jahrgang 1945, von einer pietistischen Großmutter erzogen worden. Am Sonntag nachmittag um zwei Uhr wurde ich, im beschaulichen Rottweil, zur pietistischen Andacht geschleppt, ich spielte dort Harmonium; der Weg führte am Kino vorbei, wir bogen rechts ab, ließen die Schulfreunde stehen, die dort auf den Beginn der nachmittäglichen Jugendvorstellung warteten. Daß es mindestens zwei Welten gibt, eine geistliche und eine weltliche – wie es bei den Pietisten hieß -, mit dieser Erfahrung bin ich also groß geworden und ich kann nicht sagen, daß ich darunter gelitten habe: denn es ist allemal besser, in mehreren statt nur in einer Welt zu leben. Allerdings muß man dem Entweder-Oder entkommen und die Chance zum Sowohl-als-Auch haben. Ich hatte sie aufgrund des glücklichen Umstandes, daß mein Vater jedem, der es hören wollte also auch mir, erklärte, er sei Heide. So wurde die großmütterliche Macht des Geistlichen durch die väterliche Macht des Weltlichen ausbalanciert, und so war ich in beiden Welten zuhause: im Kino um die Ecke und bei der pietistischen Andacht. Bei diesem Sowohl-als-Auch blieb es. Als im Jahre 1968 meine Generation das politische Engagement und den Marxismus entdeckte, da habe ich morgens an den Fabriktoren Flugblätter verteilt und abends, wenn mir die Kapital-Kurse Zeit ließen, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« gelesen. Auch das waren zwei Welten. Während der politisch turbulenten 70er Jahre arbeitete ich über die Romantik und über E.T.A. Hoffmann. Das war damals nicht zeitgemäß, es galt ja das Primat der Politik. Wenn man aber das Ganze politisch definiert – ich zitiere jetzt aus der Einleitung zu meinem Hoffmann-Buch - »so ist es schließlich die Politik, die nach dem ganzen Menschen greift: Eine schlechte Zeit für die Gewaltenteilung, für den fröhlichen Relativismus, für das levantinische Lavieren, auf das sich Hoffmann so gut verstand«. Was mich damals (und heute) an Hoffmann faszinierte, war seine Doppelexistenz als Kammergerichtsrat und abgründiger Poet, als Amtsschimmel und Pegasus. Am Hoffmann liebe ich das Unprotestantische: ‚hier steh ich, ich kann auch anders‘.
Für das Leben in mindestens zwei Welten hat Nietzsche mit seinen Gedanken zum »Zweikammersystem der Kultur« - wie ich es genannt habe – eine prägnante Formulierung gefunden. Eine höhere Kultur müsse dem Menschen, schreibt er, »gleichsam zwei Hirnkammern geben... In einem Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden«.
Dies ist eine Beschreibung, die ich gerne auf meine eigenen Obsessionen anwende. Als philosophierender und diskursiv erzählender Schriftsteller will ich beides: einheizen und abkühlen, nacheinander und, wenn es geht, gleichzeitig. In einer Akademie der Poeten und der Wissenschaftler, in einer Akademie mithin des Sowohl- als- Auch, fühle ich mich gut verstanden und deshalb wohl. Ich danke ganz herzlich für den Glücksfall, daß die Zuwahl auf mich gefallen ist.