Literaturwissenschaftlerin
Geboren 17.11.1960
Mitglied seit 2016
Herr Präsident, verehrte Mitglieder
der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,
lassen Sie mich mit einem Talisman beginnen: »Gottes ist der Orient / Gottes ist der Occident / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.« Eine Landkarte umgeben von diesen Versen hing über meinem Kinderbett in einer Reihenhaussiedlung am linken Niederrhein, wo ich aufgewachsen bin. Höhepunkte des Familienlebens mit traditioneller Rollenaufteilung und zwei jüngeren Brüdern waren die Mahlzeiten in Anwesenheit des sonst physisch nur wenig präsenten Vaters. Vor dem Sonntagsfrühstück liest er, statt Tischgebet, Gedichte, besonders gerne: »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden«. Und er geht mit uns ›raus‹: Die Sonntagswege führen an den Niederrhein, mächtiger Fluss zwischen den Deichen und den Pappeln, die Napoleon gepflanzt haben soll. Die großen Lastkähne aus Holland machen Wellen, die uns die Füße nässen. Wie die Zirkuswagen, die manchmal auf den Rheinwiesen gastieren, ist das zum Greifen nahe fremde Leben mit Wäscheleine und Kinderwagen, das auf solchen Kähnen an uns Kindern fast wie im Film vorbeizieht, Kristallisationspunkt für das Fernweh. Sommernachts die Züge vorbeifahren hören, das auch.
Ich mag den Kirschbaum im Garten, die Birke vor der Haustür, die riesige blassrosa blühende Kletterrose, die das schmucklose Reihenhaus in ein Dornröschenschloss verwandelt, aber ich fühle mich nicht sehr zuhause. Die Menschen im Laden, die Nachbarn im Dorf sprechen anders, sind anders. Unsere Eltern kommen woanders her; die Straßennamen der Neubausiedlungen in unserer Nachbarschaft – Elbinger Straße – sind mir vertraut aus ihren Erzählungen. Ich bin dreizehn, als meine Mutter mich mitnimmt nach Jena, in die Stadt ihrer Kindheit: Sie erzählt mir vom Hunger und wie es war, als nach dem großen Bombenangriff die Stadtkirche brannte. Sie zeigt mir die Zinne in Schillers Garten. »Hier hat ihn Goethe besucht« – wir fahren nach Weimar, wohnen bei alten Bekannten ganz nah am Ilm-Park. Am wichtigsten ist meiner Mutter der Jakobsfriedhof mit dem Grab von Christiane: »Der ganze Gewinn meines Lebens / Ist, ihren Verlust zu beweinen.« So lerne ich Goethe kennen.
Ich lese dann eher Max Frisch, Georg Trakl, Christa Wolf und Sarah Kirsch, Ingeborg Bachmann, Simone de Beauvoir. Nach der Schule bin ich ein Jahr in London, es fasziniert mich die überraschende Nähe der Verfremdungsästhetik bei den Frühromantikern und Bertolt Brecht – und wie es sich anfühlt, in einer anderen Sprache zu leben. Dass ich mich nicht für Jura, sondern für Germanistik entscheide, ist kein Zufall, auch Göttingen nicht, dort hat mein Vater studiert. Dabei geht es mir nicht um die Deutung von Dichtung. Susan Sontags Plädoyer für eine Erotik der Kunst – »Against Interpretation« – hatte mich noch in der Schule nachhaltig beeindruckt. Meine Neugier gilt der Sprache. In Göttingen aber war die Linguistik damals verwaist – also doch vor allem Literaturwissenschaft. Im Zwischenprüfungsseminar studieren wir Goethes West-östlichen Divan, hier finde ich unverhofft die Talismane meiner Kindheit wieder. Die Abschlussarbeit will ich den paradoxen, gleichzeitig hermetischen und dialogischen Kommunikationsstrukturen widmen, die so unterschiedliche Autoren prägen wie Paul Celan und den sprachtheologischen Metakritiker der reinen Vernunft, Johann Georg Hamann. Schließlich vergleiche ich ihn doch ›nur‹ mit seinem Zeitgenossen Jean Paul.
Danach gerate ich in die Editionswissenschaft, eigentlich wollte ich ein Zweitstudium Biologie anschließen und Wissenschaftsjournalistin werden. Aber Albrecht Schöne wünscht sich die philologische Bearbeitung wenigstens der wichtigsten Handschriften aus der reich überlieferten Werkstatt des Faust-Autors und bietet mir an, darüber bei ihm zu promovieren. So komme ich wieder nach Weimar. Von 1987 bis 1991 verbringe ich viele Wochen über den Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv, das mir meine Mutter damals respektvoll von außen gezeigt hatte, und ich erlebe das Ende der DDR von beiden Seiten der Mauer. Plötzlich gibt es in Jena das Elternhaus meiner Mutter – direkt gegenüber wohnt eine Freundin aus dem Archiv. Wir kennen uns schon länger, als wir feststellen: Ihr Großvater hat als Kind mit den Geschwistern meiner Mutter gespielt.
Dann bin ich viele Jahre in München – wunderschön und sehr fremd und die Geburtsstadt unserer beiden Kinder. Bei Föhn kann man die Alpen sehen: Das vermisse ich in Frankfurt. Ich unterrichte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft: wunderbare Jahre, in denen ich mich gemeinsam mit den Teilnehmern meiner Seminare auf den Weg mache, das neue Fach zu erkunden. Besonders alle Fragen zwischen den Sprachen; ich beginne ein Projekt zu Hamann als Übersetzer und lande wieder bei Goethe und entdecke das Vergleichen von Übersetzungen als Mittelpunkt seiner Weltliteratur-Idee.
Inzwischen bin ich nun schon fünfzehn Jahre in Frankfurt, in der Stadt am Main, die sehr verschiedene Fäden meines Lebens verbindet – Goethe-Stadt, Stadt am Fluss, Universität, Handschriften-Archiv – und die mich mit der Leitung des Freien Deutschen Hochstifts vor ganz neue Aufgaben stellt. Diese kleine und gleichzeitig so weit gespannte Institution, der traditionsreiche Träger des Frankfurter Goethe- Hauses, beansprucht auf engstem Raum Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung zu fördern und bietet damit ein vielseitiges Tätigkeitsfeld, an dem ich nur auszusetzen habe, dass es mir zu wenig Zeit lässt für Lektüre. Und zum Wandern: Ich habe jetzt gar nichts gesagt über die Berge, das Licht und die Wolken, die mir doch fast noch wichtiger sind.
Und ich habe auch nicht versucht zu ergründen oder gar zu rechtfertigen, warum Sie, verehrte Mitglieder dieser ganz besonderen Akademie, mich in Ihren erlauchten Kreis aufgenommen haben. Aber ich freue mich darüber und sage Ihnen sehr herzlich Danke.