Sibylle Lewitscharoff

Schriftstellerin
Geboren 16.4.1954
Gestorben 13.5.2023
Mitglied seit 2007

Georg-Büchner-Preis

Ich bin ordentlich, bin womöglich schon ordentlich auf die Welt gekommen. Deshalb war die Buchhaltung, die ich zwanzig Jahre lang betrieb, eine durchaus angemessene Tätigkeit. Erste literarische Versuche zeigten sich darin wie ein geheimes Laster: in Briefen an säumige Zahler, Briefe, die die Firmenleitung nie zu sehen bekam. Wie bedroht man einen Schuldner hart, tut’s aber elegant und gibt zugleich die Versicherung ab, wenn er jetzt sofort zahle, sei was seine Börse leide dem Ehrvermögen wieder gutgeschrieben? Obwohl ich in meinen Büchern gerne vom Jenseits erzähle und dann wortreich vor mich hin wurmisiere, glaube ich, dass dafür das Wort Zahltag eigentlich genügt.
Zum Ordnungssinn gehört die Pünktlichkeit. Sollte ich in vierundfünfzig Jahren fünf Mal zu spät gekommen sein, kommt mir das schon übertrieben häufig vor. Vielleicht waren es nur vier Male. Selbst in meiner rebellischen Zeit, in der ich es darauf anlegte, Lehrer auf die Palme zu bringen, war ich pünktlich zur Stelle, um sie auf die Palme zu bringen. Ich weiß, die goldene Regel des Rendezvous lautet: komm fünf Minuten zu spät. Nichts zu machen. 19 Uhr 30? 19 Uhr 30! Ich sitz’ da wie der Weck (wie meine schwäbischen Großtanten gesagt haben würden) und warte.
Wer so ordentlich ist, nimmt’s auch mit der Rangordnung genau. Ungeklärte Rangfragen machen mich unruhig. In der Oberwelt ist die Sache seit langem geklärt. Erstens Gott, zweitens Kafka, drittens Beckett. Ab da Tumult.
Zum Beispiel sorgt die schimärische Mrs. Dalloway für Wirrnis, diese souverän durch alle Ränge schwebende Dame. Und was ist mit Bartleby, so stur und so sanft, ein Rangknacker wiederum ersten Ranges, was mit dem Kinogeher, den ich liebe wie sonst kaum eine Romanfigur? Hinter einer derart obsessiven Rangbeschäftigung lauert vielleicht nichts anderes als eine schlecht verhehlte Rauflust, die nur darauf wartet, dem eigenen Rang zuliebe mit aller Welt Händel anzufangen.
Seit mehreren Jahren beschäftigt mich ein Wunsch, der soviel Aussicht auf Verwirklichung hat wie der Wunsch, Indianer zu werden. Wie schafft man es, ein guter Mensch zu sein? Gut in schlichtem Sinne: gutmütig, weise, freigiebig, heiter.
Sie haben mich freundlicherweise in Ihre Akademie gewählt. Die Akademie für Sprache und Dichtung ist vermutlich eine Institution für Schwätzer, für ernste, schlaue, witzige, vergnügliche, blitzgescheite Schwätzer. Und nun meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte verraten Sie mir, wie macht man das: gesellig sein, ohne fortwährend einen dieser hoch amüsierlichen Pfeile aus dem Köcher zu ziehen und damit auf Kollegen zu zielen, die gerade abwesend sind? Normalerweise heißt das üble Nachrede. Bekanntlich wird sie von fast jedem Menschen betrieben, besonders gern von schlauen, wendigen Rednern, die Sinn haben für Dramaturgie. Ich freue mich auf Ihre Unterweisung, wie vielleicht ohne sie auszukommen wäre, ohne allzu viel an Pfiffigkeit einzubüßen. Und im Notfall, sollte mir diese Kunst nicht beizubringen sein: als Kassenwart wäre auf mich Verlass.