Andreas Gardt

Sprachwissenschaftler
Geboren 26.12.1954
Mitglied seit 2016

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
ich bin Germanist und Sprachwissenschaftler. Zu Beginn meiner Arbeit in der Wissenschaft war ich Anglist und Literaturwissenschaftler. Begonnen hatte ich mein Studium in Mainz. Die Stadt und ihre Umgebung, aus der meine Familie stammt, mochte ich sehr, die Mainzer sind freundliche Menschen. Unser Deutschlehrer sagte uns, das sei der bewegten Geschichte der Stadt zu verdanken, die seit der Römerzeit immer wieder Fremdes aufgenommen und eingemeindet habe, mit einem Höhepunkt in der Gründung des Mainzer Jakobinerklubs und der Mainzer Republik, an der auch Georg Forster (oder Schorsch Forster, wie man in Mainz sagt) beteiligt war. Ein wenig mag das Naturell der Menschen auch der schönen Lage ihrer Stadt am Rhein und einer sehr katholischen Freude am Genuss geschuldet sein.
Nach den ersten Semestern meines Studiums aber hatte ich den Eindruck, lange genug dort gelebt zu haben, und ging nach Heidelberg, wo ich in der Anglistik promovierte, über die deutschen Übersetzungen von James Joyce. Auch durch biographische Zufälle gelangte ich in die dortige Germanistik, habilitierte über die Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung bei Oskar Reichmann, dessen Lebendigkeit und Prägnanz des Denkens mir bis heute gefallen. Der Wechsel von der Anglistik in die Germanistik war nichts verglichen mit dem Wechsel von der Literatur­- in die Sprachwissenschaft. Das verwundert vielleicht, da sich hinter den Namen der Philologien ganze Kulturen in ihrer Eigenart auftun, Goethe und Rilke hier, Shakespeare und Ezra Pound dort. Das ist richtig, aber bei aller Spezifik der Tradition bleibt Literatur immer ein kulturelles Phänomen, während recht große Teile der neueren Linguistik ein eher naturwissenschaftliches Erkenntnisideal pflegen. Der Unterschied ist nicht oberflächlich, man gürtet sich ganz anders, wenn man so oder eben so arbeitet. Dabei gefiel mir die, wie ich empfand, größere Stringenz des sprachwissenschaftlichen Arbeitens, und so suchte ich mir Forschungsthemen, bei denen ich ebendas mit meinen Interessen an einer kulturorientierten Wissenschaft verbinden konnte, nun seit vielen Jahren in Kassel: die Geschichte der Reflexion über Sprache, die Korrelation von Sprache und Erkenntnis, die Feinheiten der Analyse von Texten und gesellschaftlichen Diskursen, schließlich die Frage nach der Bedeutung von Sprache für unsere kulturelle und politische Identität. Allem liegt zugrunde, dass Sprache nicht nur beschreibt, sondern auch ins Werk setzt, unser Fühlen, Denken und Handeln leitet und Wirklichkeiten entstehen lässt. Wie spielt sich das ab, was genau an der Oberfläche der Texte ist es, das sie uns so oder anders verstehen lässt?
Unter den erwähnten Interessen ist das Thema »Sprache und Identität« eng verknüpft mit meiner Nähe zum Angelsächsischen, das für mich nach der Promotion nicht mehr als Anglistik, also als wissenschaftliche Disziplin, präsent war, vielmehr als steter Kontakt vor allem zu England. Manchmal scheint es mir, als habe ich the best of two worlds: Ich betreibe ein Fach als Profession, kann meine Interessen im anderen Bereich zugleich so ausleben, wie ich es will. Eine besondere Rolle spielt die englische Sprache, für mich nicht Gegenstand wissenschaftlicher Analyse, sondern reines Vergnügen. Meine Frau und ich nahmen in England, als wir dort als Universitätslektoren arbeiteten, die Gewohnheit an, einzelne englische Ausdrücke oder Wendungen in unser Deutsch einfließen zu lassen, wenn wir dachten, ein Wort treffe einen Sachverhalt besonders gut, aus einer dem Englischen eigenen Perspektive. In Gegenwart unserer beiden Söhne verfielen wir bisweilen ganz ins Englische, wenn wir etwas besprechen wollten, das sie nicht hören sollten. Wir hörten damit auf, als wir den Eindruck hatten, ihr Schulenglisch sei zu gut, worauf sie uns sagten, dass sie uns schon seit sehr langer Zeit verstehen.
Vor meinem Studienabschluss in Deutschland legte ich einen Master of Arts in Comparative Literature ab, an der University of East Anglia in Norwich. Die Universität war ausgesprochen lebendig, zog attraktive Persönlichkeiten als Dozenten an. Dort begegnete ich Guido Almansi, Autor, Kritiker, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft, später Feuilleton­-Redakteur von La Repubblica. Ich hatte noch nie eine solche Art von Wissenschaft erlebt: Das Kanonische ignorierend, suchte er an den Rändern des Fachs, oft sprunghaft, willkürlich, zugleich ungemein interessant, wenn auch methodisch gelegentlich ziemlich ungesichert. (So hatte er die Vorstellung einer unterschiedlichen Eignung von Sprachen für die Darstellung bestimmter Themen: »›J’ai embrassé ta bouche‹ – this is perfect! ›I have kissed your mouth‹ – it is nothing ...«.) Immer wieder argumentierte er interdisziplinär, was bei mir auf fruchtbaren Boden fiel und sich bis heute in vielen meiner Interessen zeigt, ganz aktuell am Sprechen über Kunst im Umfeld der Kasseler documenta. Der interdisziplinäre Blick ist stärker auf den Gegenstand der Untersuchung in seiner Gesamtheit gerichtet. Er beleuchtet ihn nicht aus einer einzelnen Perspektive, eben der disziplinären, vielmehr so, wie dieser Gegenstand uns in der Lebenswelt begegnet, in allen oder zumindest doch mehreren seiner Facetten. Der Gewinn für den Wissenschaftler ist die Orientierung am Phänomen in seinen realen Konturen, das Risiko ist der unsichere Boden, auf den er sich begeben mag. Jedenfalls ist das Erleben von Interdisziplinarität das Reizvollste, was ich aus meiner Arbeit in der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen kenne, und ich freue mich darauf, es auch in Ihrer – unserer – Akademie erleben zu können.
Noch mehr aber reizt mich an der Arbeit des Wissenschaftlers die Möglichkeit, ganz vorne ›dabei zu sein‹, zumindest in jenen Momenten, in denen man zu etwas denkt und arbeitet, das so noch nie jemand gedacht hat. Man betritt freien Raum und setzt selbst die Markierungen zu seiner Vermessung. Vielleicht verbindet das die Wissenschaft mit der oft ganz anders gearteten Kunst. Und möglicherweise gehört zu beidem auch eine gewisse Anmaßung: Wenn man von sich auch nicht sagen würde, man sei der bedeutendste aller Wissenschaftler, so habe ich doch noch keinen getroffen, der sagt, der Kollege Soundso könne das alles besser als man selbst. Auch von einem Künstler kann ich mir das nicht so recht vorstellen. Vor allem die Frage, wie sich das bei Schriftstellern verhält, würde ich mich in diesem Kreis gar nicht zu stellen trauen.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, Mitglied dieser Akademie zu sein, und ich danke Ihnen, dass Sie mich aufgenommen haben.