Konstantin M. Asadowski

Germanist und Übersetzer
Geboren 14.9.1941
Mitglied seit 1992

Friedrich-Gundolf-Preis

Herr Präsident! Verehrte Mitglieder der Akademie! Meine Damen und Herren!
Vor zweieinhalb Jahren, als mir der Friedrich-Gundolf-Preis in Zürich verliehen wurde, sprach ich in meiner Dankesrede über meine deutschen »Wurzeln« sowie über mein Verhältnis zur deutschen Sprache und Dichtung. Anläßlich meiner Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, einige Gedanken über Rußland darzulegen – über das Land, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin.
Ich gehöre einer Generation an, die aus eigener Erfahrung alle Greuel des Totalitarismus kennt: die Tyrannei der Macht, die Unterdrückung der Andersdenkenden, die Straflager ... Freilich ist Rußland nicht das einzige Land, das in diesem Jahrhundert den Totalitarismus durchlaufen hat. Da aber die geschichtliche Entwicklung in Rußland sich grundsätzlich von anderen Ländern unterschied, hat auch der russische Totalitarismus einige spezifische Züge ausgebildet. Ein typisches Merkmal der kommunistischen Ideologie in Rußland war beispielsweise die Xenophobie – Mißtrauen, ja Intoleranz gegenüber allem, was von draußen kam, besonders – vom europäischen Westen. Der Haß gegen die sogenannten »bürgerlichen Werte« hat sich in der ehemaligen Sowjetunion im Vergleich zu den anderen Ländern des früheren Ostblocks viel tiefer eingeprägt und brutalere Formen angenommen. Dies war eine Tragödie, deren Folgen wir erst heute, nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems, in aller Deutlichkeit einsehen können.
Es ist wohlbekannt, daß die russische Kultur aus der Kreuzung nationaler Tendenzen und westeuropäischer Einflüsse entstanden ist. Die Verschmelzung dieser beiden Elemente entpuppte sich im Laufe der Zeit als eine tiefe, fast unversöhnliche Gegnerschaft. Das beste Beispiel dafür ist der krasse Gegensatz zwischen den russischen Slavophilen und Westlern im 19. Jahrhundert, der sich unter anderem Vorzeichen bis in die Gegenwart fortsetzt. Das patriarchalisch-bäuerliche Land, das »heilige« rechtgläubige Rußland, das seine Bestimmung in der Weltgeschichte noch zu erfüllen hatte, das war das Ideal der Slavophilen. Dem setzten die Westler ihre Vorstellungen vom aufgeklärten Westen entgegen, wobei sie besonders die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in den entwickelten Ländern Westeuropas bewunderten und auf deren wirtschaftlichen Fortschritt hinwiesen. Im Grunde genommen sind diese beiden Denkrichtungen, sowohl die Slavophilen, als auch die Westler, eine zutiefst russische Erscheinung: nur in Rußland konnten sich zwei derartig entgegengesetzte Standpunkte entwickeln und so lange am Leben erhalten.
In der sowjetischen Ära war es immer eine Gefahr, nicht-offizielle Ansichten jeder Art zu bekennen; darunter fielen auch Slavophilie und Westlertum, insbesonders aber das letztere. Es war gefährlich, westliche Kollegen zu treffen, mit ihnen zu korrespondieren, ja Kontakte mit offiziellen Institutionen zu pflegen, sei es in Bonn, in Paris oder in Washington. Es war gefährlich, westliche Radiostationen zu hören oder im Westen erschienene Bücher zu lesen (oder auch nur zu besitzen). Als schlimmstes Vergehen aber galt damals das »prowestliche« Denken: wer in seinen Äußerungen der westlichen Lebensweise den Vorzug gab, dem blühten unumgänglich Unannehmlichkeiten.
Dies war eine Zeit des mittelalterlichen Dunkelmännertums, eine Zeit des allgemeinen Hasses und der allgemeinen Lüge, so wie sie in den Büchern von Orwell und Koestler, in den Romanen von Grossman und Solženitsin gedacht und geschildert wurden. Es war eine Epoche der tief verankerten biologischen Angst vor dem System – einer Angst, die ganze Generationen hinweggerafft hat. Ich komme nicht umhin, in diesem Zusammenhang an eine Kurzgeschichte von Bert Brecht zu denken (aus seinen Flüchtlingsgesprächen):
Ein Ausländer kommt nach Deutschland und besucht seinen Geschäftsfreund. »Na, wie geht es euch unter dem neuen Regime?« – fragt er ihn schon im Kontor. Der Geschäftsfreund wird bleich, murmelt etwas ganz Unverständliches vor sich hin und zieht den Ausländer zur Tür. Sie betreten ein Restaurant und setzen sich weit weg von allen anderen Gästen. Der Ausländer wiederholt seine Frage, aber der Deutsche schielt mißtrauisch auf die Tischlampe, die einen ungewöhnlich dicken Bronzefuß hat. Sie zahlen, und der Deutsche führt den Ausländer in seine Wohnung, direkt ins Badezimmer, dreht den Wasserhahn auf, und unter dem lauten Rauschen des Wassers flüstert er ihm, kaum noch hörbar, ins Ohr: »Wir sind zufrieden.«
All das ist uns noch lebhaft im Gedächtnis. Jetzt, da der eiserne Vorhang verschwunden ist, erinnern wir uns an unsere jüngste Vergangenheit oft ohne besondere Aufregung, fast gleichgültig – so gedenkt man einer großen Gefahr, einer Krankheit z.B., die bewältigt worden ist. Aber die Krankheit des Totalitarismus ist nicht spurlos vorübergegangen: ihr Virus lebt noch, latent, im Bewußtsein des riesigen Landes.
Was kann man, was muß man tun, damit diese Krankheit nicht die nächsten Generationen ansteckt? Damit die russische Nation sich für immer losreißt von der Angst und dem Haß? Damit die Xenophobie und der Nationalismus sie nicht von innen aufzehren? Ich war stets der Meinung, daß es gegen die Unduldsamkeit nur eine einzige Waffe gibt – nämlich die Toleranz, gegen Abriegelung – die Offenheit, gegen Mißtrauen – das Vertrauen.
Nur offene und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen, in erster Linie, zwischen der russischen und der westlichen Intelligenzia, können unserem Lande helfen, sich von den großen Übeln loszumachen, an denen es auch heute noch leidet: von dem Gefühl der Abgesondertheit, von dem Streben nach nationaler Überlegenheit und zugleich – von einem quälenden Minderwertigkeitskomplex. Wie man sieht, ist dies heute auch im Westen weitgehend bekannt. Jede freundschaftliche Geste, jede Hilfsaktion in Richtung Rußland sind unter den gegenwärtigen Umständen besonders wichtig: in ihnen offenbart sich ein moralischer, heilsamer, fast läuternder Sinn.
Noch vor fünf oder sechs Jahren hätte die Wahl eines freischaffenden Wissenschaftlers aus der Sowjetunion in irgendeine westliche Akademie für ihn nichts als unerwünschte Folgen gehabt. Bestenfalls wäre eine solche Anerkennung ignoriert oder totgeschwiegen worden. Im schlimmeren Fall hätte er Erklärungen und Rechtfertigungen abgeben müssen. Glücklicherweise hat sich vieles verändert und ändert sich weiterhin unter unseren Augen. Langsam, aber unentwegt wendet Rußland sein Gesicht dem Westen zu, und auf diesem Gesicht erkennt man endlich beinahe so etwas wie ein Lächeln – das erste Zeichen der Genesung von einer schweren nachhaltigen Krankheit. Der Heilungsprozeß – und das möge nicht vergessen sein! – ist zu einem großen Teil den Bemühungen des Westens zu verdanken.
Lassen Sie mich daher heute, sehr verehrte Kollegen und Mitglieder der Akademie, Ihnen meinen innigen Dank aussprechen, und zwar nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen vieler meiner Mitbürger, die genauso denken wie ich, die mit dem endgültigen Zusammenbruch der kommunistischen Ordnung und mit der erwünschten Beseitigung aller nationalen Barrieren ihre Hoffnungen auf die Aufnahme Rußlands in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker verbinden. Als einer aus der Menge dieser für Sie unbekannten Menschen danke ich Ihnen für die Offenheit und das Vertrauen, die Sie mir persönlich entgegengebracht haben. Ich trete in Ihren Kreis, und in diesem Ereignis, das für mich als einzelnen so bedeutsam ist, sehe ich zugleich eines der Zeichen des angedeuteten allgemeinen Prozesses, an dem auch Rußland notwendigerweise teilhaben muß. Gerade auf diesen Wegen, und das ist meine Überzeugung, kann Rußland doch einmal seiner Bestimmung in der Weltgeschichte gerecht werden. Ich danke Ihnen!