Jenny Erpenbeck

Schriftstellerin
Geboren 12.3.1967
Mitglied seit 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
Herr Busch sagte mir, ich solle, um mich Ihnen vorzustellen, kurz sagen, wie ich ich geworden sei, und warum ich schriebe, so in fünf Minuten.

Und nun habe ich also überlegt, was unbedingt in diese Rede hineingehört.

Soll und muss ich da sagen, dass es in dem Berliner Mietshaus, in dem meine Großmutter zusammen mit meiner Urgroßmutter im dritten Hinterhof wohnte, immer nach kalter Ofenasche gerochen hat?
Oder dass meine Mutter mich einmal die Schule schwänzen liess, um mit mir auf dem zugefrorenen Liepnitzsee Schlittschuhlaufen zu gehen? Soll ich sagen, dass meine Großmutter meiner Mutter, und später meine Mutter mir nach einem Besuch immer einen Topf mit Essen nach Hause mitgab, einen Gummi überkreuzt von Henkel zu Henkel gespannt, und das Kreuz des Gummis war da, wo der Griff für den Topfdeckel ist?

Soll ich sagen, dass die weißen Strumpfhosen gekratzt haben, wenn die Eltern meines Vaters mich ins Theater führten? Dass ich in der Ruine des Neuen Museums an einer Birke hinauf in den ersten Stock geklettert bin? Dass ich erst viel später, als ich erwachsen war, erfahren habe, dass der prächtige rote Granit in der U-Bahn-Station Berlin Mohrenstraße, die früher Otto-Grotewohl-Straße hieß, aus den Ruinen der Reichskanzlei stammte? Oder dass sich an dem toten Ende der Leipziger Straße immer gut Rollschuh fahren ließ, so kurz vor der Mauer?

Soll ich sagen, dass mein Vater, im Trabi sitzend, zu meiner Belustigung an roten Ampeln mit seinem Körper immer so lange hin und herschaukelte, bis das ganze Auto wippte in den Wellen des Asphalts? Oder dass meine Großmutter und meine Urgroßmutter lange Zeit noch in zwei Schüsseln abgewaschen haben, die man, in einen Rahmen gesteckt, aus dem Küchentisch herausziehen konnte? Dass ich von meinem Großvater angeln gelernt habe und dabei – ohne mit der Wimper zu zucken – Regenwürmer mitten entzwei riss?

Oder muss und soll ich stattdessen besser – und auch wahrheitsgemäß – sagen, dass ich nichts lieber tue als lesen? Dass ich nichts lieber tue als auf dem Rücken in einem See schwimmen? Dass ich am glücklichsten bin, wenn ich mit nackten Beinen durch ein Gebüsch streife? Dass es für mich nichts Schöneres gibt, als Musik zu hören? Oder: dass ich schüchtern war als junges Mädchen, so schüchtern, dass ich mein erstes Rendezvous durch meine Sprachlosigkeit verdarb? Dass ich jeden, der mein Tagebuch gelesen hätte, nie wieder hätte sehen wollen? Dann hätte ich ja auch jemandem meine Nieren zeigen können oder meine Kniescheiben unter der Haut oder mir eine Taschenlampe in den Mund halten können, während ich einen küsse.

Habe ich schon gesagt, dass ich von meiner Verwandtschaft die Erlaubnis bekam, während unserer ost-westdeutschen Treffen auf dem Teppich niederzufallen und plötzlich zu schlafen? Dass meine West-Tante lachte, wenn sie auf dem Ost-Balkon einen Lappen ausschüttelte und die Krümel dem Mauerposten, der unten patrouillierte, um die Nase flogen? Dass ich lange Zeit fand, das mein Pionierrock, dunkelblau und plissiert, mein schönster Rock sei?

Dass ich, als meine Urgroßmutter begraben wurde, elf Jahre alt war. Und sechzehn, als eine Freundin starb. Dass der Verlag, der die Bücher meiner Großmutter verlegte, nach dem Mauerfall pleiteging. Dass es von da an zum Beispiel das Wort »Kaufhalle« nicht mehr gab. Dass ich danach zuerst nach Wien fuhr, und dann nach Italien, nicht aber nach Stuttgart, Frankfurt am Main oder Köln. Dass die letzte Zeit meiner Großmutter sehr schwer war. Dass die grauen Fassaden, die Bombenlücken, die Sackgassen an der Linie der Trennung allmählich verschwanden, und ich mich in meiner eigenen Stadt kaum noch zurechtfand.

Dass ich, wenn ich mir für die Flucht vor dem Weltuntergang ein Buch aussuchen könnte und müsste, Ovids Metamorphosen mitnehmen würde, und dabei habe ich sie noch niemals von vorne bis hinten gelesen. Was ich sonst einpacken würde, ist überhaupt so eine Frage. Meine Großmutter und meine Urgroßmutter haben ein kleines Haus in einer Hindenburgsiedlung irgendwo im heutigen Polen stehenlassen, aber sich selbst und ein paar Fotos gerettet. Meine Großeltern väterlicherseits haben ein Bild von der Kollwitz und ein paar Bauhausmöbel stehenlassen, als sie in die Sowjetunion emigrierten, aber sich selbst, eine Blechbüchse mit Olivenöl und einen Apparat zum Zigarettendrehen gerettet. Und ein Kind noch dazu, meinen Vater.

Das Lebendige retten und den Rest wenigstens aufschreiben, wenn er zu sperrig ist, um ihn mitzunehmen, oder zu schwer oder nicht mehr in den Koffer hineinpasst oder schon weg ist, verloren, verboten, eingezogen, unschicklich, veraltet, gestohlen, abgebrannt oder rückübertragen. So könnte man vielleicht sagen.

Man könnte auch sagen, dass die Zeiten sich ändern, und es manchmal schön ist, das mitanzusehen, manchmal auch weniger schön. Dass es aber tatsächlich so ist, und es daher sinnvoll ist, sich für alle Fälle zu wappnen. Nach vorn zu schauen und nach hinten und nach oben und nach unten, bis man mittendrin in der Schlacht trotzdem alles langsam anschauen kann, mittendrin sich zurückziehen kann, bis man weit genug weg ist, um nur das Zentrum nicht zu verlieren.

Dass ich in diese Akademie hineingewählt wurde, freut mich sehr, weil ich hoffe, mit Ihnen über all das, wovon die Sprache nur die äußere Hülle ist, sprechen zu können.

Haben Sie vielen Dank.