Ulrich Weinzierl

Journalist, Literaturkritiker und Autor
Geboren 7.3.1954
Gestorben 13.1.2023
Mitglied seit 2001

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren !
In Wien geboren und Wiener geblieben zu sein, bedeutet mancherlei: Vorrecht der Geburt und Recht der Überzeugung, Segen und Fluch. Von letzteren beiden habe ich in den achtundvierzig Jahren meines Daseins eine ganze Menge abbekommen. Derlei sucht man sich nicht aus, man erträgt's ‒ oder auch nicht. Jedenfalls aber weiß ich die große Ehre, daß Sie mich in Ihren Kreis aufgenommen haben, dankbar zu schätzen. Journalisten genießen hier ja nur selten Zutrittsrecht. Daß ich ein solcher geworden bin, war gewiß kein Privileg, eher ein durch äußere Umstände begünstigter Fehltritt, anders ‒ mit dem Ineinander von Segen und Fluch ‒ gesagt: ein verdammtes Glück. Eigentlich hatte ich nach Familienbrauch eine Universitätslaufbahn einschlagen sollen, zumal da mir mein Lehrer, Wendelin Schmidt Dengler, die Germanistik als auch fröhliche Wissenschaft schmackhaft gemacht hatte. Allein, 1977 zählte ich dann zu den Pionieren einer kurz darauf mächtig anschwellenden Bewegung. Ich war arbeitsloser Akademiker. Weil ich jedoch meine Dissertation über den Wiener Kritiker und Feuilletonisten Alfred Polgar verfaßt hatte, kannte ich den Wiener Kritiker und Feuilletonisten Hans Weigel, und er kannte die Buchfassung meiner Dissertation. Weigel ist ein geradezu pathologischer Förderer all dessen gewesen, was er auch nur irgendwie für förderungswürdig hielt. Darum rief er mich kurz nach der Promotion an und fragte nach meiner Beschäftigung. Ich gab die Wahrheit zur Antwort ich hätte keine. Das ließ Förderer Weigel weder auf sich noch auf mir sitzen. »Sie müssen schreiben«, entschied er ohne Widerspruchsmöglichkeit für mich. Zu diesem Behufe bedrängte er Marcel Reich Ranicki so lange, bis der mir eines Tages tatsächlich einen Band zur Rezension schickte. Es war passender Weise die Neuauflage eines österreichischen Romanklassikers über Arbeitslosigkeit. So kam ich zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auf die schiefe Bahn des Kritikers. Ich durfte viel von Reich-Ranicki lernen und darf es bis heute. Was man nicht lernen kann, ist sein Temperament, seine ausschließliche und ausschließende Leidenschaft für Literatur. Viel verdanke ich auch Georg Hensel, in dessen von Eifersucht freier Liebe zum Theater immer ein wenig Nachsicht höherer Heiterkeit mitschwang. Nie und nimmer möchte ich die langen Jahre in der FAZ missen, die ich vorsichtshalber freilich stets auf Außenposten verbrachte. ich meine die unverwechselbare Atmosphäre im Feuilleton von anno dazumal. Bewundernswert waren Takt, Noblesse und schwebend leichte Gelehrsamkeit meiner Vorgängerin, der Essayistin Hilde Spiel. Bis heute fühle ich mich gar manchem Kollegen von einst in Freundschaft und Respekt verbunden. Laune des Schicksals: Mit mehreren Mitschülern aus dieser sehr besonderen Frankfurter Schule arbeite ich mittlerweile in der Berliner Welt zusammen, für die ich seit Herbst 2000 als Kulturkorrespondent ‒ naturgemäß weiterhin aus Wien ‒ über Literatur und Theater, über Oper und bildende Kunst berichte.
Das ist die eine, Existenz sichernde Seite meiner Existenz. Sie ermöglicht mir die andere: hin und wieder ein Buch zu veröffentlichen, mich in Bibliotheken und Archiven und fremdvertrauten Schicksalen zu vergraben, um jener Gegenwart zu entfliehen, der wir doch nicht entrinnen können. Mit Sicherheit ist es in erster Linie biographische Neugier, die mich dazu treibt, den Komödien und Tragödien dichterischer Produktivität nachzuspüren. Aber auch die Faszinationskraft von Sprachkunst, von Poesie. Die Epoche der vorletzten Jahrhundertwende, als mehr denn je Genies in Wien beheimatet waren, entläßt mich nicht aus ihrem Bann. Schnitzlers und Polgars Leben und Werk haben mich zutiefst beeindruckt; immer wieder Karl Kraus zu lesen, gehört zu jenen therapeutischen Vergnügen, die vor der Vergiftungsgefahr im sogenannten Betrieb schützen. An Hugo von Hofmannsthal, einem Schwierigen von Rang, möchte ich mich noch versuchen. All das ist kein Beruf, sondern Hobby und Passion zugleich. Welch günstige Fügung, daß mir als eine Art Motto meiner durchaus sekundären Tätigkeit die zauberisch einfache Erkenntnis eines bedeutenden Mitglieds dieser Akademie dient: »We come after«, schreibt George Steiner. Ich will es nie vergessen.