Christoph Geiser

Schriftsteller
Geboren 3.8.1949
Mitglied seit 1985

Ich bin ein Nachkriegsgeborener aus einem verschonten Land, dessen bürgerliche Fassaden noch immer so unverrückbar in der europäischen Landschaft stehen wie das Matterhorn. Ein phallischer Berg, etwas geknickt, mit einer weltberühmten Frontalansicht und einer häßlichen Kehrseite – der Berg, mit dem Zeus den ›Typhos‹, das dampfende Ungeheuer einer rebellischen Vorzeit, im Erdinneren unter Verschluß hält, damit es nicht unerwartet zu Eruptionen kommt.

Von diesem Postkartenpanorama, vom lautlosen Zerfall der familiär-verfilzten Verhältnisse hinter den immer wieder restaurierten Fassaden, von der epidemisch grassierenden Krankheit der Vernebelung, der Betäubung, des Verschweigens, vom Überleben in den Hüllen fremder Identitäten, mit dem Wunsch, den Panzer der einstudierten Rollen zu sprengen und aus der Haut zu fahren, handeln meine Geschichten – schweizerische Geschichten, der eigenen Biographie entlang geschrieben, weil ich allmählich gelernt habe, meinen verborgenen Beständen eher zu vertrauen als meinen öffentlichen Parolen. Aber ohne Parolen hätte ich mich im Irrgarten dieses Trümmerfeldes aus Bürgerlichkeit verloren.

Ansichten waren einmal meine Stärke – ich klammerte mich fest daran.

Ursprünglich wollte ich Theologie studieren, lernte Hebräisch, ging mit fünfzehn ins Kloster, verirrte mich 1968 in die Soziologie, fand im Marxismus (vor allem bei Brecht) den archimedischen Punkt, von dem aus ich die Welt meiner anachronistischen Herkunft aus den Angeln heben konnte, und entdeckte schließlich (merkwürdig spät) die Krankheit zum Tode, den Begriff Angst, Furcht und Zittern: die Verzweiflung des Dinosauriers, der plötzlich sein Biotop nicht mehr vorfindet und, auf der Suche nach neuen Lebensverhältnissen, sich im Gestrüpp des brachen Landes tolpatschig verheddert. Zu schwerfällig gebaut, schafft er den Sprung nicht, in die Utopie.

Unter dem Berg aus Wohlerzogenheit und Diskretion kam mein literarisches Ich nur langsam zum Vorschein – stockend am Anfang, stolpernd über Komma, Semikolon, Doppelpunkt und Gedankenstrich, zunächst nichts als eine Erzählperspektive, dieses Ich, eine versteckte Kamera, ein stummer Beobachter, der, durch das Geröll dreier Romane hindurch zu seiner Sprache findend, sich am Ende seiner Wüstenfahrt als Verkörperung des Außenseiters entpuppt, als Verweigerer wider Willen, Spielverderber aus Ungeschicklichkeit, von Natur aus verkehrt: die Geburt eines Ungeheuers, allerdings, für schweizerisches Selbstverständnis.

Ganz geheuer ist der Außenseiter nirgends in der Welt, am allerwenigsten sich selber; doch wer ich sagt, öffentlich, vereinzelt sich in jedem Fall und stellt sich außerhalb.

Wenn ich mich heute dafür bedanken darf, daß Sie dieses Ungeheuer zum Akademiemitglied gewählt haben, schon verwunderlich kurz nach seiner Geburt, so tue ich dies naturgemäß mit einer etwas komplizierten Verbeugung, wie es sich für einen Dinosaurier gehört – und mit der spontanen Freude, daß Sie den Außenseiter, angesiedelt an den Rändern, ins Zentrum geholt haben, zur Mit-Arbeit.