Egon Schwarz

Literaturwissenschaftler
Geboren 8.8.1922
Gestorben 11.2.2017
Mitglied seit 1986

In USA, wo ich lebe, ist es eine oft geübte Gepflogenheit, eine öffentliche Ansprache mit einer heiteren Wendung oder einer einleitenden Anekdote zu beginnen. Dieser der Auflockerung dienenden Sitte möchte ich auch heute noch treu bleiben. Ein anglistischer Kollege von mir an der Washington Universität, wo ich seit einem Vierteljahrhundert deutsche Literatur und einschlägige Geisteswissenschaften lehre – mein offizieller Titel, »Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities«, nimmt darauf Bezug – erzählte mir einst von einer tief einprägsamen Erfahrung seiner Jugend. Er ist als Kind einer skandinavischen Familie in dem fernwestlichen, äußerst bevölkerungsarmen Staat Idaho geboren, in einem so kleinen Ort, daß ein paar Schritte genügten, um in eine unwegsame Wildnis zu gelangen, in der man sich leicht verlieren konnte. Deshalb schärften ihm seine besorgten Eltern ein, er solle sich immer nach zwei Hügeln – »buttes« genannt – orientieren, an denen er auch aus größerer Ferne die Lage seines Heimatdorfes erkennen könne. Wie er mir berichtete, nahm sich mein Bekannter die Lehre seiner Eltern so sehr zu Herzen, daß er das Wissen um diese Hügel und das intuitive Empfinden ihrer Position nie wieder verlor, sondern überallhin mitnahm, wohin das Leben ihn auch verschlug. Selbst in einer New Yorker Kongreßhalle oder im dichtesten Straßengewimmel von London wisse er instinktiv, in welcher Richtung hinter seinem Rücken sich die beiden »buttes« seiner Kindheit befänden.

In Analogie zu dieser Geschichte habe ich niemals die prägenden Erfahrungen in den hispano-indianischen Gesellschaften Südamerikas von mir abtun können, die ich als Emigrant und Wanderarbeiter in einer für die intellektuelle Ausbildung des Menschen höchst empfänglichen Zeit meines Lebens, von sechzehn bis siebenundzwanzig, gemacht habe. Zu welcher Erscheinung, zu welchem Ereignis ich auch Stellung nehmen soll, mir ist immer, als stünde einer der elenden, ausgebeuteten Indianer, von denen ich in meiner Jugend umgeben war, hinter mir und flüstere mir meine Gedanken ein. Mit anderen Worten, der Grund, warum ich mit meinen Meinungen über den Gang der Dinge in den Industriegesellschaften so oft von denen vieler Menschen meines Umkreises abweiche, liegt darin, daß ich die Geschehnisse mit Augen betrachte, denen das Sehen in den Entwicklungsländern der Dritten Welt beigebracht wurde; wobei ich nicht in Abrede stellen möchte, daß der Verlust von Heimat und Sicherheit, den meine Familie in der faschistischen Epoche erleiden mußte, und die darauffolgende Emigration, die in unserem Fall von ausgepichter Unbequemlichkeit war, ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

In nationaler Hinsicht fühle ich mich ohne Bezugsgruppe, ohne jegliche Identität. Der frühen Prägung durch Milieu und Schule nach bin ich Wiener, das ist mir seit einem längeren Aufenthalt in meiner Geburtsstadt, zu dem mich deren Kulturamt kürzlich eingeladen hatte, deutlicher als je, was aber nicht bedeutet, daß ich mich emotional an Österreich gebunden fühle. Zahlreiche Wurzeln eines fast vierzigjährigen Familien- und Berufslebens knüpfen mich vielmehr an die Vereinigten Staaten, aber politisch bin ich durch eine Reihe von Enttäuschungen der dortigen Entwicklung entfremdet, obgleich ich nach wie vor viel Bewundernswertes in USA kenne, das ich auch bereit bin, gegen die uniformierten und pauschalen Urteile, denen man oft begegnet, zu verteidigen. Von den Lehrern, die ich als junger Mensch aus den Andenländern mitgenommen habe, war schon die Rede; aber sie reichen nicht aus, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erzeugen. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, daß man in einem tieferen Sinn Bolivianer nicht werden kann. Dazu muß man geboren sein. Obwohl unreligiös, bekenne ich mich, wie jeder Mensch, der authentisch leben möchte, zu meinen Ursprüngen, d. h. also zur jüdischen Schicksalsgemeinschaft; aber die Entwicklung in Israel erfüllt mich mit Sorge und Mißbilligung.

Meine geschichtsphilosophische Position möchte ich in aller Knappheit mit zwei Kennworten umreißen: ich betrachte mich als Mikro-Optimisten und Makro-Pessimisten. Ich gehe mit einer gewissen Gelassenheit durch den Alltag und glaube z. B. nicht, daß sich heute in dieser Versammlung oder morgen oder übermorgen grauenhafte, die Menschheit erschütternde Katastrophen ereignen werden. Aber daß der Menschheit Katastrophen von ungeahnten Ausmaßen bevorstehen, ist mir gewiß. Ich kann das in dem mir zugemessenen Zeitraum nicht näher ausführen, möchte es aber mit Hilfe eines Syllogismus wenigstens andeuten:

Wenn wir nicht zurückstecken, sind wir verloren.
Wir stecken nicht zurück.
Also sind wir verloren.

Zum Abschluß drängt es mich, auch kurz zu sagen, was mich an dieser Akademie anspricht und warum ich die Wahl zum korrespondierenden Mitglied dankbar annehme. Es ist der hier herrschende Pluralismus, die daraus resultierende Interdisziplinarität und die gemeinsamen Zielsetzungen. Hier sind Menschen verschiedenen Alters, verschiedenen Geschlechts, verschiedener Ausbildung, verschiedenster Berufsausübung und weltanschaulicher Ausrichtung versammelt, aber vom gleichen Bestreben beseelt: der Pflege von Sprache und Dichtung. Sprache und Dichtung aber sind mir nach dem Verlust meiner ersten zur zweiten Heimat geworden und werden mir, so hoffe ich, eine Zufluchtstätte bleiben.