Thomas Lehr

Schriftsteller
Geboren 22.11.1957
Mitglied seit 2018

Sehr verehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!


Unsere Brüder, unsere Schwestern, die Tintenfische, stoßen ihre
schwarze Wolke nicht aus, um sich preiszugeben, sondern um sich zu
verstecken. Wenn ich aber hier, als Tintenfisch unter Tintenfischen, den Versuch unternehmen soll, nicht zu verschwinden, dann brauche ich Ihnen nicht die dunkle Materie der Buchstaben zu erklären, von der Sie wenigstens so viel verstehen wie ich und durch die Sie, infolge Ihrer eigenen Sprachversessenheit, wohl leicht hindurchsehen können. Es genügt, auf die spezifische Beschaffenheit meiner Wolke hinzuweisen, auf meine Kopffüßereigenschaft als passionierter Romanschriftsteller einer besonderen Unterart.

Nolens volens bewegt sich auch der Tintenfisch durch Raum und Zeit. Ich bin in Speyer, in der südwestdeutschen Provinz aufgewachsen, in einer kleinen Stadt mit einem großen Dom. Das könnte einiges besagen, wogegen ich mich ein Leben lang gewehrt habe, am meisten wohl durch den Versuch, meiner Tintenwolke, meiner literarischen Camouflage, eine weltläufige, urbane, stellenweise fast akademische Grundlage oder Grundfarbe zu geben. Mein Geburtsjahr 1957 ist aufschlussreich, ebenso sind es die Geburtsjahre meiner Eltern. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war mein Vater elf Jahre alt und meine Mutter sechs. Meine Novelle Frühling, die das Leiden eines Sohnes unter den Verbrechen seines Vaters im Nationalsozialismus darstellt, hat also keine autobiographische Basis. Auch als ich den Protagonisten meines ersten Romans Die Erhörung einen Achtundsechziger sein ließ, war ich asynchron, denn ich erlebte die Zeit von 1967 bis 1974 als Zehn- bis Siebzehnjähriger. In meinem Dasein gibt es, allein von den historischen Koordinaten her, keinen Zwang, sich schreibend mit irgendeiner Art von historischem Bruch auseinanderzusetzen. Ich bin ohne äußere Not tintensüchtig geworden, ich bin ein glücklicher Schriftsteller der Freiheit.

Als junger Erwachsener begriff ich dann aber langsam, was es hieß,
dass im Jahr meiner Geburt der Krieg erst zwölf Jahre vorüber war und dass ich in einem geteilten Land aufwuchs. In einiger Hinsicht bin ich dennoch ein typischer Vertreter der westdeutschen Generation neunundsiebzig geblieben. Originell war vielleicht, dass ich in meinem achtzehnten Lebensjahr beschloss, mit der Beziehung von Sprache und Welt Ernst zu machen. Das heißt, ich gab die vermessene Idee auf, ein dreiköpfiger Schriftsteller und Held wie Jean-Paul Sartre werden zu können, dessen vielschichtigem Werk ich – asynchron wie stets – die größtmögliche Inspiration verdankte, und ich beschloss, zunächst einmal Naturwissenschaften zu studieren. Mein neuer Lebensplan war, ein schreibender wissenschaftlicher Intellektueller zu werden, angeregt und beruhigt durch die Lektüre der Schriften und insbesondere der Autobiographie von George Bertrand Russell. In den Brexit-Zeiten tut es mir gut, mich daran zu erinnern, wem ich den skeptischen mathematischen Sinn und die Idee eines geistigen Weltbürgertums verdanke – und schon bin ich bei Swift, Defoe und Stevenson, die doch bereits aus meinen Kinderlesejahren Weltlesejahre machten.
Als ich mich in meiner Moabiter Hinterhofwohnung im Westberlin des Jahres 1981, in meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr, zwischen der Wissenschaft und der Romanschriftstellerei zu entscheiden versuchte, half mir der Idiot der Familie, Gustave Flaubert. Sprache so ernst nehmend wie Chirurgie, brüllte er seine perfekten Sätze aus seinem Arbeitszimmerfenster in Rouen auf die Seine hinaus, vielleicht noch 1869, im Erscheinungsjahr der wundervollen Éducation sentimentale, die ich gerade zum zweiten Mal las. Ich hörte ihm zu, bis es mir gelang, alle seriösen Vorbehalte gegenüber der Kunst in die Spree fallen zu lassen. Rückhaltloser Künstler wurde ich nur durch die rückhaltlose Kunst. Der Rest sind Romane.

Im Lauf der Jahre habe ich versucht, von vielen Schriftstellern zu lernen, neben Sartre und Flaubert traten Marcel Proust und Claude Simon, zu Tolstoi gesellte ich Nabokov, zu John Updike Thomas Pynchon, zu Robert Musil Thomas Mann und Alfred Döblin. Soweit meine Säulenheiligen, große Kopffüßer mit sehr verschiedenen Tintenfarben. Das Genie von James Joyce ist ein ewiger Wetzstein – aber ich weiß nicht, ob die Lehrmeister viel oder überhaupt etwas über meine Bücher sagen. Die Begegnungen mit ihnen waren jedenfalls so existentiell, dass ich sagen möchte, sie hätten nacheinander mein Leben gerettet, mein Schreiberleben ganz bestimmt. Meine eigenen Schriften nun handeln zumeist vom zwanzigsten Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme, in dessen Mitte ich geboren bin, frei, glücklicherweise, aber nicht unbelastet, versehen mit einem gewissen provinziellen Spin, entschlossen, im Laufe meines Lebens zwei Dinge immer mehr zu steigern, die fundamental sind für meinen Beruf: die Sensibilität und Tiefenschärfe, mit der man die Welt, in der wir leben, wahrnehmen kann, und das Vermögen, sie mit einer reichhaltigen, durchdachten Sprache zu fassen.

Mehr ist es nicht. Ich danke Ihnen herzlich für die Aufnahme in diese Akademie!