Fuad Rifka

Übersetzer und Lyriker
Geboren 28.12.1930
Gestorben 14.5.2011
Mitglied seit 2002

Friedrich-Gundolf-Preis

Vor beinah 2500 Jahren wurde das Delphi-Orakel gefragt, ob jemand in Athen weiser sei als Sokrates. Die Antwort lautete: Niemand. Als Sokrates erfuhr, was das Orakel gesagt hatte, war er überrascht, weil er genau wußte, daß seine Weisheit wertlos war.

Sicher darf ich mich überhaupt nie mit diesem großen Denker vergleichen. Aber mein Gefühl war seinem ähnlich, als ich die erfreuliche Nachricht erhielt, daß mich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zum korrespondierenden Mitglied gewählt hatte.

Erstaunt fing ich an, mich zu fragen: was könnte der Grund dieser Wahl sein? Sicher kann eine solche Entscheidung nicht daraus resultieren, daß ich am 29. Dezember 1930 in einem sehr schlichten Dorf in Syrien geboren wurde, sie läßt sich auch nicht davon herleiten, daß ich mit meiner Familie in den Libanon auswanderte, als ich zehn Jahre alt war, auch nicht, daß ich an der Amerikanischen Universität in Beirut Philosophie studierte, oder, daß ich als DAAD-Stipendiat zunächst nach Göttingen und später nach Tübingen zog, wo ich bei Otto Friedrich Bollnow über die Ästhetik Martin Heideggers und Oskar Beckers promovierte; sie läßt sich nicht darauf zurückführen, daß meine Beschäftigung mit deutschem Denken und deutscher Dichtung dazu beigetragen hat, die deutsche Kultur in die Arabische Welt einzuführen, und auch nicht, daß ich an der Übersetzung des Alten Testaments ins Arabische jahrelang teilnahm, und letzlich kann eine solche Entscheidung nicht daraus resultieren, daß ich seit Jahren an der Libanesisch-Amerikanischen Universität im Libanon Philosophie unterrichte. Zusammengefaßt ist die Laufbahn meines Lebens ganz normal, ganz gewöhnlich, nichts Besonderes gehört dazu, sie ist die Laufbahn der Hoffnung und der Verzweiflung,der Freude und der Leiden, der Stürme und des Friedens, sie ist die normale Laufbahn des Menschen auf dieser Erde. Eine Laufbahn wie diese kann nicht erklären, warum mir die Deutsche Akademie diese einmalige Ehre verleiht. Aber dafür muß es einen Grund geben. Was könnte dieser Grund, dann, sein?

Wir brauchen nicht lange nach der Antwort zu suchen. Die Antwort auf unsere Frage liegt hier in diesem Ort. An diesem Ort versammelt sich die Deutsche Akademie. Die Deutsche Akademie, die sich in diesem Ort versammelt, bezieht sich auf die Sprache und die Dichtung. Die Sprache, mit der sich die Deutsche Akademie befaßt, ist dichterisch. Die Konjunktion »und« zwischen »Sprache« und »Dichtung« bezeichnet kein äußerliches Verhältnis zwischen den beiden Wörtern, als wären sie total getrennt voneinander. In diesem Zusammenhang bezeichnet diese Konjunktion ein inneres organisches Verhältnis zwischen der Sprache und der Dichtung. Die Sprache spricht, indem sie dichtet. Die Dichtung dichtet, indem sie spricht. Auf dem Boden des sprechenden Gedichts und der dichtenden Sprache gründet sich die Deutsche Akademie.

Was hat diese Schlußfolgerung mit der schon gestellten Frage zu tun? Die Frage fragt nach dem Grund, warum mich die Deutsche Akademie zum korrespondiereden Mitglied wählte. Und jetzt finde ich mich mit der Frage der Sprache und der Dichtung verwickelt. Soll das bedeuten, daß ich wirklich über keine überzeugende Antwort verfüge? Genau so! Alles das, was ich hier sagen kann, ist folgendes:

Wir Orientalen glauben sehr stark an das Schicksal. Seit meiner Jugend bestimmt das Schicksal meinen Lebensweg. Mein Lebensweg richtet sich auf den Horizont der Dichtung. Wer sich auf diesen Horizont ausrichtet, der muß in Gefahr geraten. In der Gefahr sucht der Dichtende einen Schutz. Die Deutsche Akademie, die sich für Sprache und Dichtung, und folglich für die Gefährdeten, einsetzt, bietet mir Schutz an. Mit Dankbarkeit und Freude nehme ich das Geschenk an. Es ist das Geschenk des Ursprungs.

In einem Gedicht, dessen Titel: Die Wanderung ist, dichtet Hölderlin:

Schwer verläßt
Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.