Hans-Martin Gauger

Romanist
Geboren 19.6.1935
Gestorben 26.6.2024
Mitglied seit 1981

Unsere Mutter sprach anders, denn sie kam aus Westfalen. Anders, ähnlich zum Teil wie die Mutter, sprachen sodann die Evakuierten, die, kurz vor Ende des Krieges, einbrachen in das oberschwäbische Städtchen. Wir nannten sie »Norddeutsche«, obwohl sie zumeist aus dem Ruhrgebiet kamen. Ihr Sprechen empfanden wir, verglichen mit unserem, als lauter und feiner zugleich; es erschien uns als aggressive Angeberei. Wir fühlten uns, ohne uns dies wirklich einzugestehen, unterlegen. Für mich war der Zusammenstoß, der über das Sprachliche weit hinausging, aber sich an ihm kristallisierte, ein traumatisch nachwirkender Schock.

Nach den Evakuierten aber kam, auch sprachlich, das ganz Andere. Die Sirenen heulten an jenem Nachmittag länger als sonst. »Kein Fliegeralarm«, hieß es, »das ist Panzeralarm«. Der Zehnjährige hatte große Angst; viel zu ruhig für den Anlaß, beinahe leichtsinnig, schien ihm die Mutter. Dann, im Keller sitzend, in Wolldecken gehüllt, hörten wir, von der Straße her, das Unheimliche: ein polterndes Rollen und Rasseln, dazwischen, immer wieder, Krachen und Knattern von Schüssen. Als sich, endlich, das Lärmen gelegt hatte, sagte die Mutter: »Ich gehe jetzt hinauf«. – »Aber wenn du einen Soldaten triffst ...«, sagte ich, »du kannst doch nicht Amerikanisch.« – »Die Amerikaner«, sagte sie, »sprechen Englisch.« Welcher Zehnjährige, heute, wüßte dies nicht?

Es waren aber nicht Amerikaner, die gekommen waren, sondern Franzosen; nicht richtige Franzosen, zumeist, sondern Tunesier. Sie hatten fremde, dunkle, scharf geschnittene Gesichter, und hohe Mützen aus rotem Filz saßen ihnen schief auf dem Kopf. Es waren die ersten Ausländer, die ich sah. Nun war, mit einem Schlag, das Französische überall, und mir verband sich sein Klang, für immer, mit dem Weichen der Angst, die zuvor überall war und die mich, noch einmal, wie abschiednehmend, ergriff, als ich, am Morgen nach jener Nacht, wenige Schritte vom Haus entfernt, einen toten Soldaten sah: Seine Augen waren geöffnet, und staunend sah ich, daß sein Gesicht, das unbeteiligt starrte, Entsetzen nicht spiegelte.

Die Tunesier – man nannte sie »Les Spahis« – waren unerwartet freundlich, besonders zu uns Kindern, und sie sprachen, neben anderem, das sie auch sprachen und das sehr heiser klang, französisch. Aber es waren unter den Ankömmlingen auch richtige Franzosen, und bald wohnte in unserem Haus ein Offizier, fast so vornehm wie der »Königsleutnant« Thoranc, damals, im Großen Hirschgraben in Frankfurt. Er hieß aber bloß Dupont. Am Französischen gefiel mir der Klang und das merkwürdige Auseinanderfallen von Laut und Schrift. »Rhin et Danube« – dies war nun überall zu lesen, auf Plakatsäulen und Hauswänden: die Proklamation, in blau-weiß-roter Umrandung, an die Truppe, unterschrieben »General de Gaulle« (aber der Name eines anderen Generals gefiel mir weit besser: Général de Lattre de Tassigny). Es war eine sinnliche Anziehung durch den Klang, durch die lautliche Epidermis dieser Sprache und – damit zusammenhängend – der ständige Wunsch, das auf so komplizierte Weise überschüssig Geschriebene zum richtigen, genau abgehörten Klang zu befreien.

Ende der vierziger Jahre keimte, was man »Völkerverständigung« nannte. Die Regierung in Paris setzte für die französischen Schulen, die sie ihrer Besatzungsmacht eingerichtet hatte, Stipendien für einige deutsche Schüler aus. Mein Vater, Studienrat für Französisch – dies freilich kam hinzu –, hörte davon, und so geschah es, daß ich drei Jahre in einem französischen Internat verbrachte, in einem »lycée«, das zwar in Deutschland lag, aber wie irgendeines in Frankreich war. Dies war nun für mich die totale Immersion. Es war aber auch die Rettung vor der Norm, welche die Evakuierten, dann die Flüchtlinge, repräsentierten und der nicht zu genügen war, durch den Ausweg, die Flucht ins Fremde.

Früh erlebte ich so das Glück, dem des Schauspielers, denke ich, sehr verwandt, in der Aneignung des Fremden seiner selbst ledig zu werden. Gewiß ist ja der Erwerb einer lebenden fremden Sprache – in einem freilich ganz unpaulinischen Sinn – auch so etwas wie »das Anziehen eines neuen Menschen« (Eph 4,24). Das Französische wurde mir nun Teil eines größeren Zusammenhangs: der Sprung, 1949, vierzehnjährig, intensiv und staunend erlebt, aus materieller Knappheit in relativen – besonders kulinarischen – Luxus, die Natürlichkeit, die anmutige Lebhaftigkeit meiner Altersgenossen, der weiblichen zumal, die lässige Eleganz der Lehrer, die distanzierte, zum Teil sehr ansehnliche, kosmetisch wirksam gestützte Feinheit der Lehrerinnen. Es war »la douce France« – mitten in Württemberg. Viele Jahre später mußte ich daran denken, als mir, irgendwo in den Pyrenäen, vor dem Übertritt nach Spanien, ein französischer Zöllner, in meinem Paß blätternd, nostalgisch und bedeutsam sagte: »Tubingen, Monsieur? Ah, c’est un beau pays, le Wurtemberg; j’aimerais bien y retourner.« Ich verstand – unwillkürlich – anderes, als was er meinte, denn ich dachte, als er dies sagte, an das Frankreich, damals, am Rande der Alb. Ich sagte ihm, worauf er lächelte: »Je vous ai compris.« Und fuhr weiter.

Spanien war mehr als eine Erweiterung. Es war eine Verschiebung des seelischen Akzents. Von der »douce France«, also, zur »claire Espagne la belle«; zwei feste Wortverbindungen, die sich schon finden im altfranzösischen Rolandslied, in welchem der heroische Weg mühevoll in umgekehrter Richtung, von Spanien nach Frankreich, führt. Zu meiner Beziehung zum Spanischen, dieser einfachsten, klarsten, kartesianischsten Sprache, kann ich hier nichts sagen, denn ich könnte dazu nur Vieles und Umständliches sagen. Diese Beziehung ist bedingt durch die Verbindung mit einer Spanierin, durch die Berührung, jeden Sommer erneuert, mit ihrer verzweigten Familie, durch das zweisprachige Heranwachsen der Kinder.

Man muß, sagt Lichtenberg, um eine fremde Sprache gut zu sprechen, »ein kleiner Geck« sein. Gewiß ist daran etwas Richtiges. Es gehört zum Beherrschen einer fremden Sprache ein Element von Spiel, auch ein Stück Eitelkeit und ein wenig Hybris. Zwar gilt von der fremden Sprache, was Francis Bacon von der Natur behauptet: »Man kann sie nur besiegen, indem man ihr gehorcht«, »nisi parendo non vincitur«; aber in der Hingabe an die fremde Sprache, in dem sich öffnenden Angebot an sie – oder genauer, denn darum geht es: an bestimmte: anders sprechende Menschen –, in dem Angebot also an das Fremde, einzuziehen ins eigene »Gehege der Zähne«, ins eigene Bewußtsein, verbirgt sich doch – und oft sehr schlecht – psychologisch gesehen ein Stück Eitelkeit. Und was die Hybris angeht, liegt sie natürlich darin, daß der Versuch, das Fremde hereinzuholen, nie wirklich, nie in jeder Hinsicht gelingt. Vielleicht haben auch darum die sonst so beweglichen und neugierigen Griechen, da sie Hybris scheuten, sich für fremde Sprachen kaum interessiert. Mir war es beruhigend zu erfahren, daß selbst einer der demütigsten Menschen, die es gab, nicht frei war von jener selbstgefällig spielenden Hybris.

Eigentlich hieß er ja Giovanni, Giovanni Bernardone. Sein Vater jedoch, ein Kaufmann, aus Frankreich von einer Reise zurückgekehrt, nannte ihn, man weiß nicht recht warum, Francesco, was ja »Franzose« heißt und also ein Spitzname war; erst nach ihm wurde daraus ein richtiger Name. War es nun väterliche Prägung, ein Rest von Bindung an den Vater, von dem er sich so sehr getrennt hatte, oder nicht, jedenfalls wird berichtet, daß Franz von Assisi sehr gern, aber nicht sehr gut, französisch sprach (mit »französisch« ist dabei wohl »provenzalisch« gemeint). Einmal, wird erzählt, ging er in Rom zum Portal der Peterskirche; dort lieh er sich von einem der Bettler, die dort saßen, dessen Lumpen, legte die eigenen Kleider ab und bettelte auf den Stufen der Kirche. Und zwar bettelte er auf französisch. Auch sprachlich also der Wechsel des Gewands ... Warum aber bettelte er auf französisch? In der Erzählung heißt es nur: »Er liebte es nämlich, französisch zu sprechen, obwohl er es eigentlich nicht konnte (Dreigefährtenlegende).

Ich freue mich über meine Aufnahme und schließe mit diesem Eingeständnis, indem ich herzlich danke, diesen »Bericht an eine Akademie«.