Peter Schünemann

Schriftsteller und Publizist
Geboren 25.4.1930
Gestorben 1.2.2022
Mitglied von 1993 bis 2013

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
vor etwa 210 Jahren, am 12. November 1784, verließ der Student Jean Paul Friedrich Richter, so arm wie er gekommen war, fluchtartig die Stadt, in der heute die Akademie ihre Frühjahrstagung abhält. Zurück blieben zornige Gläubiger und geprellte Wirte. In der verschabten Reisetasche führte der Einundzwanzigjährige mit sich das Manuskript Aus des Teufels Papieren.
Meine weniger schüttere fiskalische Lage wird mich davor bewahren, Leipzig unter ähnlichen Bedingungen den Rücken zu kehren. Gleichwohl bringt mich eine Selberlebensbeschreibung in Verlegenheit. Ohnehin uneinholbar für jeden, der heute schreibt, ist der große Leitstern aus Wunsiedel meinesgleichen noch in einer anderen Hinsicht um eine ganze Reise um die Welt voraus: nämlich um die Ich-Entdeckung in seiner Kindheit – als, wie er sagt, »an einem Vormittag ... auf einmal das innere Gesicht ›ich bin ein Ich‹ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb«. Da hatte er »zum ersten Mal sich selber gesehen und auf ewig«.
Dieser schönen kindlichen Ewigkeit, aufbewahrt von der Polyphonie der Erinnerung, war wenige Jahre zuvor in einem recht bestimmbaren Zusammenhang jene andere aufgegangen, die Johann Gottlieb Fichte, der Demagoge des Alls, – wie Herder ihn nennen würde – vor ihm aufgerissen hatte.
Fichtes selbstgesetztes Ich erfaßte Jean Paul in seinem satirisch daherkommenden Stück der Clavis fichtiana mit Grauen: »Rund um mich«, so lesen wir da,
»eine weite versteinerte Menschheit – In der finstern unbewohnten Stille glüht keine Liebe, keine Bewunderung, kein Gebet, keine Hoffnung, kein Ziel – Ich so ganz allein, nirgends ein Pulsschlag, kein Leben, nichts um mich und ohne mich nichts als nichts – in mir den stumm, blind, verhüllt fortarbeitenden Dämogorgon, und ich bin er selber – ... und wer hört die Klage und kennt mich jetzt? – Ich. Wer hört sie, und wer kennt mich nach Ewigkeit? – Ich«.
Solche Ängste – und wir wissen heute mehr von ihnen als unserem Leben bekömmlich ist – haben schon der frühen Kindheit sich ungelindert mitgeteilt.
Ich bin 1930 in Hamburg geboren, und meiner Kindheit und Jugend waren diese Ängste, mit der Gewalt des Unbekannten, ins Vertraute wie ein Element hineingefahren, das die Ich-Bindungen – historisch zwischen Selbstbehauptung und Unterwerfung – grell veränderte. Von diesen Sprüngen im Kindheitskosmos, von der traumatischen Macht der Früherfahrung, von der Vereinsamung, der Dislozierung des Ich, werden viele meiner Generation wohl einiges mitteilen können. Zum ersten Mal in ihrem Leben, in einem noch begriffslosen Moment, sieht sich die Seele als ein Fremdes auf Erden, wie ich als Fünfzehnjähriger in der streng aufgehobenen Expressionisten-Bibliothek meiner Mutter bei Trakl las.
Doch in den ungelöschten Ängsten ist gleichwohl die alte Forderung nach Selbsterhaltung wirksam geblieben. Wem früh – gleichsam im windstillen Kern des Wirbelsturms – das Glück ihrer Entdeckung zuwächst, dem wird die Sprache zum Mittel des Erkennens und des Ausdrucks unaufgelöster Leidenserfahrung. Und aus ihnen auch wird sie ihre Begriffe gewinnen. Denn es gibt, mit Humboldt, »eine Epoche, in der wir nur sie erblicken, wo sie nicht die geistige Entwicklung bloß begleitet, sondern ganz ihre Stelle einnimmt. Sie besitzt eine sich uns sichtbar offenbarende, wenn auch in ihrem Wesen unerklärliche Selbsttätigkeit«.
Wenn in dem, was ich als Vierzigjähriger zu schreiben begann, in der Wunschphantasie, so etwas wie Identität zu gewinnen, indem man den eigenen Spuren im Fremden nachgeht, auch jene Hybris mitsprechen mag, die an der Erhaltung des unbegriffenen Ich einst mitgewirkt hatte, so liefert unweigerlich, wer vom Anderen redet, immer ein Selbstbekenntnis ab. Da aber leitet einen die Selbsttätigkeit der Sprache zu schätzenswerten Entdeckungen. Die Zeichen werden zu Hieroglyphen und beginnen, ungesteuert vom Despoten das Alls, selbst zu sprechen. Solchen Beobachtungen von Karl Kraus hat man sich gern anvertraut. So bleibt dieses fremde Ich auch unterm Maskenbild des Andern kenntlich. Auch das Gesicht jener, die den bloßen Schein ihres Ich-Seins durchschaut haben und in der Gegenwelt ihrer Phantasien eine Utopie erkannten, die der Welt anzubieten aussichtslos war, bleibt rätselhaft und unnahbar.
So versiegelte Hölderlin sein Ich in parataktische Fügungen, denen er als junger Theologe in den hebräischen Urtexten begegnet war, und machte sie zum Instrument seiner verschlüsselten Spätdichtung. Trakl folgte ihm mit schneidender Konsequenz und mit einer Erfahrung, die ihm ans Leben ging: was seine Kunst in Chiffren zu melden hatte, war vom dahinstürzenden Weltlauf längst eingeholt worden. Zu einer neuen, kälteren Sprache hatte Kleist schon die Einsicht Kants geleitet, daß Erkenntnis absurd und die Wahrheit nicht zu haben sei – eine Einsicht, die er in einem intrikaten Rollenspiel zum Instrument seines Schreibens macht: seine Gestalten gerinnen zur Typologie von Verblendung und Gewalt, Mißdeutung und verfehlter Absicht, von atavistischem Wahn und Ichentfremdung.
Hinter dem Zynismus Rimbauds blieb die grimmige Leidensmacht zu erkennen: sein allen Stimmen, Tönen und Farben der Welt abgehorchtes dérèglement de tous les sens zerbrach ihm wie ein unausgeträumter Traum.
Sind das für den, der sich ihnen allen nähert, andere Formen einer Suche nach Identität? Ich will das nicht entscheiden. Aber ich weiß wohl: Wenn das Ich nicht mehr sich selbst erkennt, weil es von sich nichts weiß, und am Ende in den Dingen zu verschwinden scheint, so wird ihm die Sprache – jenseits des Schrottplatzes der Sprechwelt, die uns heute einen Analphabetisierungs- und Regressionsprozeß ohne jeden Vergleich eingebracht hat – jenes Zeugnis vor Augen halten, das der jüdische Dichter Abraham Sutzkever, der Auschwitz entkam, vor fünfzig Jahren im Wilnaer Ghetto aufgeschrieben hat:
»Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Ein falscher Schritt, eine falsche Bewegung und alle Wörter, die du dein Leben lang auf deine Adern gefädelt hast, werden mit dir zusammen in Stücke gerissen«.
Ich danke Ihnen, danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, für die Aufnahme in Ihren Kreis.