Günter Kunert

Schriftsteller
Geboren 6.3.1929
Gestorben 21.9.2019
Mitglied seit 1981

Über die Schwierigkeit der Selbstpräsentation

Je näher der Tag rückte, an dem ich mich hier in Lüneburg Ihnen, den Mitgliedern der Akademie, vorzustellen haben würde, und je länger ich darüber grübelte, was ich denn da präsentieren solle, desto unruhiger, ja, beunruhigter wurde ich. Daß ich mich, mangels einer selbstgewissen und genau abgegrenzten Identität, einfach an einen Roman Max Frischs halten könne, um mich Ihnen mit dem Anfangssatz dieses Buches vorzustellen: »Ich bin nicht Stiller«, schien mir nach einigem Überlegen doch zu mißverständlich. Es klänge wie eine Verhohnepiepelung, obwohl doch als Geständnis gemeint, das bereits alles Sagenswerte in sich einschlösse. Aber vermutlich würden durch solche literarische Anleihe auch Erwartungen enttäuscht, von denen ich annehme, daß sie weniger auf die Person des sich Vorstellenden gerichtet sind, man kennt ihn ja beiläufig, als auf die Art und Weise, wie er den ihm auferlegten Ritus zelebriert.

Es liegt in der Aufforderung zur Selbstdefinition mehr als eine Verlockung. Nicht zuletzt die, sich als einen ganz anderen auszugeben; das bisher durch Presse und Medien verfertigte Porträt der eigenen Person als Täuschung zu dekuvrieren, aber, und damit mache ich schon eine entscheidende Mitteilung über mich: Dazu fehlt mir der Mut. Man bekommt heutzutage eine Art Gipsmaske aufgesetzt, ein Fließbandprodukt trotz der individuellen Herstellungsweise, und beginnt diese mit der Zeit für sein Gesicht zu halten. Mit der Gewöhnung an die falschen Züge entsteht zugleich die Furcht, ohne das einem vorgeschriebene Antlitz überhaupt nicht mehr erkennbar zu sein – auch nicht für sich selber.

Immer habe ich jene Autoren bewundert und beneidet, deren Existenz, deren Schicksal so außerordentlich gewesen ist, daß es untrennbar zur Kehrseite ihrer Werke wurde, unverwechselbar und eindeutig. Ich habe dergleichen nicht aufzuweisen. Mein Leben ist, bis auf einige Schocks, die ich zu unterschiedlichen Zeiten inmitten der Deutschen und von unterschiedlichen Systemen erfuhr und die sowohl Ursache wie Antriebe meines Schreibens wurden und blieben, ziemlich ereignislos verlaufen – falls man das Schreiben selber nicht als Ereignis zählen will. Ich habe mich immer als einen Jedermann empfunden, eine Stimme aus der überwältigenden, aber stummen Anonymität, und mich auch nur im gesellschaftlichen Kontext, im historischen wie aktuellen, einigermaßen begreifen können. Ich habe, heißt das, nur ein sehr ungenaues Bild von mir, das zu vermitteln die Ungenauigkeit zum Thema machen würde anstelle eben dieser verwischten Skizze. Dabei habe ich den Verdacht, daß es anderen mit sich selber genauso ergeht. Und daß die Selbstsicherheit der wenigen, die sich im Besitz einer feststehenden Individualität wähnen, vermutlich eine als solche nicht erkannte Illusion ist. Da jedem von uns wenig mehr gehört als das bißchen Gebein, aus dem wir bestehen und über das wir auch bloß destruktiv zu verfügen vermögen; als eine Reihe von Erfahrungen, die nicht vermittelbar sind, und eine Anzahl von Erinnerungen, mit Hilfe derer man sich über sich selber hinwegtäuscht, läßt sich Wesentliches über einen einzelnen, wie mich etwa, auch nicht mitteilen. Das höchste Glück der Erdenkinder, die sogenannte Persönlichkeit, der scheinbare innere Reichtum, sind, wie könnte es anders sein, Erfindungen, die wir durch unsere Tätigkeit produziert und die sich dermaßen verselbständigt haben, daß sie zu frei schwebenden Idealen wurden. Auch in dieser Hinsicht sind wir Opfer unseres Berufs: Wir halten für Fakten, was Fiktionen sind. Im Konzentrat der Literatur verbleibt, was wir für substanziell halten. Den Gattungsgesetzen entsprechend, muß wegfallen, was nur der Totalität des Daseins eigen ist: Alles Nebensächliche. Aber das Nebensächliche ist im Leben die Hauptsache; mir scheint, es setzt sich von Anfang bis Ende ausschließlich aus Nebensächlichkeiten zusammen, die wir, mit unterschiedlichem Talent und wechselndem Glück zu Hauptsachen herausstaffieren oder sogar verfälschen. Und ich will Sie mit solcher Equilibristik in bezug auf meine Person verschonen. Es wäre doch nur wieder Literarisierung. Denn nur die allein erhebt das Banale in den Rang des Ungewöhnlichen und Außerordentlichen, und für solche Rangerhebung, noch dazu durch das eigene Wort, halte ich mich nicht für den geeigneten Gegenstand. Ich bin nur, was ich schreibe und insoweit ich schreibe, und ich bitte darum den, der mich näher kennenlernen will, mich zwischen den Seiten meiner Bücher aufzusuchen.