Rita Franceschini

Sprachwissenschaftlerin
Geboren 7.3.1958
Mitglied seit 2019

Auf zu einer Ballonfahrt, nordwärts der dalmatischen Küste entlang. Und der Frage nachgehend: welchen Lebenslauf hätte ich gehabt, wenn ich da geboren worden wäre, wo meine Familie herkommt?
Es soll für einmal erlaubt sein sich zu fragen, was wäre, wenn; wenn bspw. der 2. Weltkrieg nicht losgebrochen wäre. Wo wären wir geboren worden?
Ich, am obersten Zipfel der dalmatischen Küste, in Istrien. Ich hätte an Stränden mit weissen, vom Meer blankgescheuerten Kalkplatten die Sonne genossen und im klaren Meer die ersten Schwimmversuche gemacht. Ich hätte sicher segeln wollen, fischen, tauchen. Hätte behütet in einer grossen Verwandtschaft nützliche Dinge gelernt. Hätte ich auch Sprachen studiert? Germania und Romania verbindend, wie heute
Es kam alles anders, und wie eine Bombe hat es dies vorher unhinterfragte grosse ›Familien-Uns‹ in alle Windrichtungen versprengt. Nur die Sprache blieb, im engsten Kreis: ein eigentlicher Dialekt, welchen ich heute noch mit einigen Cousinen verwende. Das kleine ›Familien-Uns‹ hat es in die Schweiz verschlagen. Wer weiss, ob wir heute als Kriegsflüchtlinge anerkannt worden wären oder ob wir herumirren müssten, bis uns jemand aufnimmt ... Und was wäre aus mir geworden?
Ich bin in einer Industriestadt in der Schweiz geboren: in Baden. Heute weiss ich, dass die dort vorherrschende pragmatische Haltung, die auf das Meritum setzte, uns gerettet hat. Und wenn man Schweizerdeutsch konnte, wie wir spielenden Kinder, war man bald ›einer von ihnen‹. Deutsch war so oder so fest in die Familiengeschichte eingeschrieben, die Grossmutter sprach gut Deutsch mit Kärntner Akzent, hielt die österreichische Tradition hoch, Strudel, Marillenknödel und Kaiserschmarrn waren auf dem Tisch, die handgrosse Jubiläumsmedaille von Franz-Josef wurde stolz von Generation zu Generation vererbt. Es gab auch stramme Italiener in der Familie. Beides hatte Platz.
Eigentlich wollte ich Architektin werden, wie mein Onkel, oder Musikerin, wie einige Lehrer drängten.
Bei näherer Betrachtung sind die drei Neigungen eng miteinander verbunden: Sprache ist Architektur, aber auch Musik ist in ihr – Sprachmelodie. Sprachen sind je eigen gebaut: einige Grundpfeiler sind gleich, tragenden Mauern ähnlich, doch die Raumverteilung kann unterschiedlich sein, die Farbgebung und die Verzierungen sehr individuell, die Innenarchitektur sowieso.
Nun bin ich Sprachwissenschaftlerin geworden, und alles in allem glücklich dabei.
Die Liebe zu den Sprachen – mit Betonung auf dem Plural – bezieht die Literatur mit ein: mein erstes Liebesgedicht verfasste ich auf Französisch – es hat eine unvergleichliche Sprachmelodie! Mit Gurgellauten wie elegante Pirouetten. Mit dreissig wollte ich meinen ersten Roman publiziert haben – daraus ist nichts geworden, wie man sieht. Es gab und gibt dazu einen Hinderungsgrund: In welcher Sprache hätte ich schreiben sollen? Und wer würde einen zweisprachigen Roman publizieren? Einen Roman in code-switching-Manier, deutsch-Italienisch, mit dialektalen Versatzstücken obendrauf?
Letztlich hat die analytische Sprachwissenschaft überhand genommen: Studium der Romanistik und Germanistik in Zürich, daselbst auch die Promotion, die Habilitation 1999 dann in Basel, unmittelbar darauf der ordentliche Lehrstuhl in Saarbrücken – et oui! la doulce France ganz nah! Und dann das überraschende Angebot an eine neu gegründete Universität zu wechseln, die sich ein einzigartiges mehrsprachiges Profil gegeben hatte: die dreisprachige Freie Universität Bozen – mit Deutsch-Italienisch-Englisch, teilweise auch Ladinisch – versprach für meine Forschungsinteressen ideal zu sein. Daselbst sollte ich aber vorerst als Rektorin amten und danach ein Kompetenzzentrum für Sprachforschung aufbauen: zu Spracherwerb und Sprachkontakt – meine Forschungsschwerpunkte. Was ich ab 2004 tat, mit viel Pioniergeist rund um mich herum. Die Geschmackspapillen waren wieder bei Grossmutter: nicht allein die Südtiroler Küche ist ein Tripudium an mitteleuropäischem und mediterranem Austausch: Romania und Germania in Kontakt, wenn auch nicht immer konfliktfrei.
In der Forschung konnte ich in Südtirol meine Interessen an mehrsprachigen Phänomenen weiter entwickeln, bis hin zu Studien zu neurobiologischen Grundlagen von mehrsprachigen Fähigkeiten. Nebst soziolinguistischen Interessen war »Sprache und Gehirn« eines meiner Forschungsthemen, schon in der Basler Zeit angelegt. Es sind wohl auch solche interdisziplinären Studien, die mich im Schweizerischen Nationalfonds, als Forschungsrätin in der Abteilung Geistes- und Sozialwissenschaften und als Vorsitzende des Fachausschusses Interdisziplinarität scheinbar befähigten, Verantwortung zu übernehmen. Arbeiten für Stiftungen haben mich immer begleitet, v. a. in Deutschland, bspw. in der Alexander von Humboldt-Stiftung.
Und nun stehe ich hier und denke, dass Europa jene Integrationskraft hat, die man nicht genug schätzen kann: Mein Vater – im 2. Weltkrieg als Kriegsinternierter in Trier und Kassel – konnte sich dank seiner Deutschkenntnisse nach den Bombardementen zurück nach Italien schlagen, doch einen Fuss auf deutschen Boden wollte er zeitlebens nie mehr setzen, in seine alte Heimat, mittlerweile als Kriegsbeute verloren, auch nicht.
Und eine Generation später stehe ich nun hier, ja, Germania und Romania verbindend und dankbar der Ehre, grenzenlos.