Günter Blamberger

Literaturwissenschaftler
Geboren 16.10.1951
Mitglied seit 2015

Sehr geehrter Herr Präsident,
verehrte Mitglieder der Akademie,
der rumänische Dichter Marin Sorescu behauptet, dass Shakespeare in sieben Tagen die Welt geschaffen und am dritten Tag den Menschen die verschiedenen Arten des Geschmacks gelehrt habe: den Geschmack des Glücks, der Liebe, der Verzweiflung, der Eifersucht, des Ruhms usw., bis keiner mehr zu vergeben war. Da hätten sich ein paar Nachzügler eingestellt, die der Schöpfer mitfühlend hinter den Ohren kraulte, weil sie nur noch Literaturkritiker werden und sein Werk in Abrede stellen konnten. Literaturwissenschaftler teilen das Schicksal der Literaturkritiker. Sie sind Nachzügler, mit dem Vorzug allerdings, dass sie ein Leben lang über Autoren schreiben dürfen, deren Werke sie lieben. Einer meiner Lieblingsschriftsteller ist Wolfgang Hildesheimer, dessen Literatur des Absurden an Beunruhigungskraft nichts verloren hat. Gelesen wird er heute nur noch selten. Hoffentlich ändert sich das anlässlich seines 100, Geburtstages im Dezember 2016. Hildesheimer verdanke ich viel, u. a. ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber jeglicher Form von deutschem Idealismus und gegenüber Sprichwörtern wie »Hunde, die bellen, beißen nicht« oder »Die Axt im Hause erspart den Zimmermann«. 1957 wurde er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, als es noch keine Vorstellungsreden gab. Schade, denn Hildesheimer war ein äußerst überzeugender Verfechter des biographischen Kausalitätsprinzips. Er wusste, dass ein Bahnbeamter seine Berufswahl dem frühen Geschenk einer Spielzeugeisenbahn schuldet und ein Zauberkasten dazu führt, dass man sich als Erwachsener in eine Nachtigall verwandelt. Wie also wird man Literaturwissenschaftler, wenn man in der fränkischen Provinz in Nürnberg in den 1960er Jahren aufwächst? Durch Besinnungsaufsätze und deren in allen Schulstufen wiederholten Frage, was denn der eigenen Bildung förderlicher sei: Lesen oder Fernsehen? Durch Fahrbibliotbeken, aus denen man sich den weiten Atem von Mowgli oder Tom Sawyer holte, wenn es einem in der Schule oder in der Familie zu eng wurde? Ich weiß nur, dass jedes Buch, das mir als Kind geschenkt wurde, der Anfang einer Sammlung war. Es ging darum, möglichst viele Bände von Enid Blyton oder Karl May zu besitzen, die Namen aller Helden zu kennen und alle Tricks, wie man versperrte Türen Öffnen oder in der Wüste überleben konnte, Lesen war ein Hobby, also etwas Ernstes, eingeweiht wollte man sein, Faktenwissen teilen, und auch später, als Gymnasiast, bei der Lektüre von Camus, Dostojewski, Goethe, Storm oder Fontane nichts anderes lernen als den Geschmack des Glücks, der Liebe, der Verzweiflung, der Eifersucht, des Ruhms, jedoch – Marin Sorescu hat Recht keineswegs das Urteilen über Literatur. Dazu verhelfen einem eher eigene Schreibversuche, genauer: die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit.
Um Dichter zu werden, gab ich das Studium der Medizin nach einigen Semestern für das der Germanistik auf, wurde dann aber – in den Hochzeiten der Alltags- und Betroffenheitsliteratur der späten 1970er Jahre, vor der es mir grauste – weder Dichter noch nach dem Staatsexamen Germanist, sondern Geograph. Ich arbeitete in Syrien an einer Dissertation über den Basar von Homs, wurde, fälschlich für einen israelischen Spion gehalten, ausgewiesen und bekam von meinem Doktorvater ersatzweise den Auftrag, die Verteilung der Minigolfplätze in Nordostoberfranken zu untersuchen. Meine Konsequenz war die Rückkehr zur Germanistik und eine Dissertation über Melancholie, über der Deutschen »Unfähigkeit zu trauern« und Formen stellvertretender Trauer im Roman nach 1945. So wurde ich zum Nachzüg1er und, wieder im Tonfall von Hildesheimers Lieblosen Legenden, zum »Verspäteten« – der Nachkriegsgeneration nonkonformistischer Einzelgänger vom Alter her nicht zugehörig und dennoch ihrer Skepsis und der europäisch-moralistischen Desillusionskunst eines Montaignes oder La Rochefoucaulds verpflichtet, der zufolge man lieber darauf achte, wie sich Menschen tatsächlich verhalten, als wie sie sich verhalten sollen. Auf der Höhe der Zeit oder gar cutting edge fühlte ich mich nie. Ich konnte mit dem enttäuschten Idealismus meiner Hochschullehrer, allesamt Alt-68er, ebenso wenig anfangen wie später mit den Gruppenzwängen der Dekonstruktion oder der Systemtheorie, und mit der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Germanistik verschwand zu meinem Bedauern in den Seminaren die semesterlange Konzentration auf das Singuläre eines dichterischen Einzel- oder Gesamtwerks, zugunsten eines durchaus spannenden, aber manchmal auch beliebigen Blümelns über die Zeiten und Medien hinweg, um ›fruchtbare Stellen‹ für die Verfertigung Öffentlichkeitswirksamer Essays zu finden.
Anfang der 1990er Jahre durfte man nicht nur Germanist sein, um Germanist bleiben zu dürfen. So wurde ich nach der Habilitation als Nachfolger Ulrich Sonnemanns Direktor eines Wissenschaftszentrums für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse in Kassel. 1995 erhielt ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur in Köln, 1996 wurde ich Präsident der Kleist-Gesellschaft. In Köln bin ich geblieben, mit der Konzession gelegentlicher Ausflüge u. a. nach Stanford, Melbourne oder in ein Medienforschungskolleg der DFG, dem ich acht Jahre angehörte, um 2009 zusammen mit dem Archäologen Dietrich Boschung mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein Center for Advanced Studies zu gründen, das Morphomata heißt, und, wie der griechische Name verrät, Gestaltbildungen in der Literatur und in den Künsten mit Fellows aus aller Welt untersucht, insofern Formen eben nicht bloß Container, Hülle oder Rahmen für Inhalte sind, sondern sich in und durch die Formwerdung eines Kunstwerks zuallererst Wissen bildet und es kaum einen besseren Zugang zum Verständnis fremder Kulturen gibt als das Studium der Differenz ästhetischer Ideen. Dem dient u.a. auch die Poetica, ein von Morphomata und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gemeinsam verantwortetes Festival für Weltliteratur in Köln, das die Spannung zwischen begrifflichem und unbegrifflichem Wissen, zwischen den ästhetischen Ideen der Literatur und den rationalen Ideen der Wissenschaften jährlich neu vermisst, eine Spannung, die mich seit jeher fasziniert hat: Bei meiner Habilitation über dichterische Schaffensprozesse in der Analyse der Beziehung von ars, ingenium und doctrina, vor allem aber bei der Beschäftigung mit Kleists riskanten literarischen und biographischen Experimentieranordnungen, die in der Enthaltung von Halt den Quellpunkt des Schöpferischen entdecken.
Mit der Rede vom »Tod des Autors«, mit der ich wenig anfangen konnte, verschwanden in den 1980er Jahren die in Uni-Seminaren in meinen Studienanfängen noch sichtbaren Freundschaften von Germanisten und Schriftstellern, die in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ebenso lebendig geblieben sind wie Traditionen der literarischen Werkstatt und der Einmischung von Intellektuellen in öffentliche Debatten. Wer, wie ich, die Tagungen der Akademie schon als Gast erleben durfte, versteht nicht, warum in den Gazetten, wie jüngst wieder, Ersatzformen der Gruppe 47 gefordert werden, die vielleicht keine aber autoritär und hierarchisch strukturiert war. Es gibt seit langer Zeit eine freiere, auch von Neid freiere Gemeinschaft, die den Wert von Literatur noch an ihrer Haltbarkeit zu messen versteht. Ich danke Ihnen für die Ehre und für das Glück, dieser Gemeinschaft jetzt angehören zu dürfen.