Asher Reich

Schriftsteller
Geboren 5.9.1937
Mitglied seit 1998

Meine Sprache ist mein Schicksal

Meine Damen und Herren,

der Staat, aus dem ich komme, hat das Image eines von Kriegen heimgesuchten Landes, in dem nicht nur Juden gegen Araber, Juden gegeneinander, Religiöse und Laien, um die Struktur dieses Staates gegen‑ und miteinander kämpfen. Es gab in der Vergangenheit einen harten und andauernden Krieg, der erst vor kurzem sein Ende fand und weniger bekannt ist als alle anderen Kriege der Vergangenheit: der Sprach- und Kulturkampf zwischen der jiddischen und der hebräischen Sprache.

Die hebräische Sprache herrscht heute in meinem Land, und die jiddische Sprache befindet sich in der letzten Zeit in einem Zustand der Agonie, obwohl es immer Dichter und Prosaiker gibt, die für eine fast nicht mehr bestehende Leserschaft schreiben. Zwischen diesen beiden Sprachen aufgewachsen, nehme auch ich teil an dem Schmerz dieser Agonie.

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, Ihnen einiges über mich zu erzählen: Meine in einer orthodoxen Umgebung verbrachte Kindheit stand im Schatten dieser zwei Kriege, des Unabhängigkeitskrieges und des Krieges zwischen den beiden Sprachen, der sich in der Endphase befand. In unserem religiösen Viertel aber setzt er sich, in gewisser Hinsicht, bis zum heutigen Tage fort. Jiddisch war in meiner Kindheit die Alltagssprache, während man Hebräisch, die heilige Sprache, nicht sprechen durfte. Dieser Zustand ist noch bis heute gültig im orthodoxen Judentum.

Die Beziehungen zwischen Jiddisch und Hebräisch, und besonders die zwischen Jiddisch und Deutsch, haben eine reiche und langjährige Geschichte hinter sich, auf die ich in diesem Rahmen nicht eingehen kann. Aber sie ist sehr interessant, und deshalb möchte ich doch auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen. Das Jiddische schöpft bekanntlich seine Grundlage aus dem Hebräischen und dem Deutschen mit einem geringeren Einfluß slawischer Sprachen.

Im achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert hatten die Schriftsteller der jüdischen Aufklärung, besonders die Berliner unter ihnen, eine feindliche Einstellung zur jiddischen Sprache und Literatur, die in Osteuropa aufgekommen war und sich von dort verbreitet hat. Sie betrachteten das Jiddische als gemeine Sprache und strebten eine Europäisierung der Juden an.

Der Kampf der jüdischen Intellektuellen im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts gegen die jiddische Sprache vollzog sich im Rahmen ihrer Eingliederung in das Leben der Staaten, in denen sie wohnten. Sogar die Übersetzung der Bibel ins Jiddische war verpönt; man eliminierte diese Sprache aus dem jüdischen Lehrsystem in Deutschland, indem man sie durch dem sprachlichen Standard entsprechende deutsche Übersetzungen ersetzte. Dies geschah in der Absicht, die jüdische Gesellschaft aus Osteuropa zu modernisieren.

Moses Mendelssohn, Aron Wolfsohn und andere waren auf diesem Gebiet tätig und erwarben sich dadurch die Anerkennung der jüdischen Gemeinden, von Stuttgart im Süden bis Hamburg im Norden, von Dresden im Osten bis Frankfurt am Main im Westen.

Die Intellektuellen betrachteten die jiddische Sprache als die Sprache des Ghettos, die sich unter diesen Juden verwurzelt hatte und eine Bedrohung für die Emanzipation wurde. Der Krieg gegen die jiddische Sprache richtete sich hauptsächlich gegen die Juden Osteuropas, die nach Deutschland gekommen waren und deren Deutsch wegen des Jiddischen Lücken und Fehler aufwies. Diese Intellektuellen strebten danach, den Juden ein korrektes Deutsch beizubringen.

Die Tatsache, daß ich in der jiddischen Sprache aufgewachsen bin, läßt sich unschwer an meiner Aussprache erkennen, da ich weder in einer deutschen Umgebung aufgewachsen bin noch eine deutsche Schule besucht habe. Das ist natürlich ein Hindernis, mich Deutsch korrekt auszudrücken. Die jiddische Sprache hat eine reiche folkloristische Grundlage und einen beißenden Humor, die leider im Verschwinden begriffen sind. Hebräisch ist im Gegensatz zum Jiddischen eine gehobene Sprache, die aus dem Reichtum der Bibel schöpft, aber die buntfarbige Intimität des Jiddischen nicht besitzt. Diese Sprache setzt sich aus Sprachschichten zusammen, die dem Gefühlsleben des Volkes entspringen und in sich das sprudelnde Alltagsleben einer geschlossenen Gesellschaft enthält, die nicht direkt von den historischen Ereignissen betroffen war.

So kam es, meine Damen und Herren, daß ich in meiner frühesten Kindheit nie Hebräisch, die Sprache des Staates, in dem ich lebte, sprach, sondern Jiddisch. Demgegenüber hatte ich die Gunst Hebräisch zu lesen, die Sprache, in der ich schreibe, und dies schon bevor ich das Alter von drei Jahren erreicht hatte. Als Kind orthodoxer Eltern wurde mir die Gnade der Worte und Klänge der Gebete aus der Thora und den anderen Büchern der Bibel zuteil. Auf diese Weise konnte ich die Wege meiner Kindheit durchschreiten, wie einer, der in der verzauberten Welt der Worte lebt, und so erwarb ich mir vorzeitig eine sprachliche Einsicht, schon in den frühen Jahren. Es war eine Art besonderer Schule zur Erlernung der hebräischen Sprache und des poetischen Reichtums der Piutim, der Gesänge des uralten Hebräisch. Ich glaube, daß die Dichtung, die wir schreiben, eine Art Gebet ist. Jeder Jude hat zwei Sprachen: In der hebräischen Sprache betet man, in der anderen Sprache, Jiddisch, setzt man sich mit Gott auseinander.

Wenn ich zurückblicke, kann ich mir die Behauptung erlauben und sagen, daß ich ohne diese meine Kindheit vielleicht nie zum Schreiben von Gedichten gekommen wäre. Mit anderen Worten: Es ist möglich, daß meine Existenz als Verfasser von Gedichten eine Art zweiter Kindheit ist, die ihre Kraft aus der bitteren Lust jener im Hause meiner Kindheit verbrachten Jahre schöpft.

In gewisser Hinsicht sind meine Kindheitserinnerungen Erinnerungen eines am Vergessen Krankenden, und so kommt es, daß ich meine Gedichte aus dem Nebel des Vergessens schreibe. Meine Sprache war und ist mein Schicksal, und dies ist nicht eine bloße Metapher. Ich glaube, daß von der Wurzel des Wortes das Licht der Heiligkeit kommt. Denn am Anfang war das Wort. Und im Wesen der Worte befindet sich die Grundlage des Strebens nach Vollkommenheit der Welt, die im Wort erschaffen wurde und ihre Erfüllung und die endlos viele Gesichter und Masken hat, vorbildliche Ordnung und wunderbares Chaos. Das Wort ist nebelhaft und durchsichtig zu gleicher Zeit. Es ist nackt und gehüllt ins sprachliche Gewand. Es enthält mehr als eine dem Auge sichtbare Form, als ein vom Ohr aufgenommener Klang. Das Wort befindet sich außerhalb seines Selbst, und fern, in seinem Innern, ist unser Anfang, unser Geist.