Daniela Strigl

Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin
Geboren 23.11.1964
Mitglied seit 2022

Johann-Heinrich-Merck-Preis

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Damen und Herren!

„Die Akademie fordert mich (nunmehr zum drittenmale) auf, ihr meine Lebensumstände zum Behufe ihres Almanachs mitzuteilen. Ich will es versuchen, nur fürchte ich, wenn sich das Interesse daran einstellen sollte, zu weitläuftig zu werden. Man kann ja aber später auch abkürzen.“ So beginnt Franz Grillparzers „Selbstbiographie“ aus dem Jahr 1853, die sich seiner Mitgliedschaft bei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften verdankt. Ich zitiere das vor allem, weil es mir Gelegenheit gibt, 150 Jahre nach Grillparzers Tod auf dieses großartige, kluge und unterhaltsame Buch hinzuweisen, und nicht weil ich hier das Bild eines Übervaters in meiner geistigen Ahnengalerie platzieren will. Grillparzer ist sich zu Beginn des Schreibprozesses nicht sicher, ob sich das Interesse an seinen „Lebensumständen“ einstellen werde, sein eigenes Interesse, wohlgemerkt, nicht das seiner Leser. Dieser Zweifel ist mir nicht fremd. Denn wie vermeide ich die Langeweile, wenn ich mir, wie es heißt, Rechenschaft ablege hinsichtlich meiner guten und weniger guten Eigenschaften, die mir doch hinlänglich bekannt sind? Und wie sollte es erst einem Publikum nicht langweilig werden, das meine Rechenschaft in naturgemäß weniger intimer und weniger aufrichtiger Form zugemutet bekommt als ich selbst? Wenn ich lieber über Grillparzer schreibe als über mich, dann verrate ich von mir immerhin soviel, daß ich einen Hang zum Didaktischen und Missionarischen habe, der mich als Literaturkritikerin ebenso in Gang hält wie als Universitätslehrerin und Biographin. Mich reizen die Randfiguren des Kanons eher als die Säulenheiligen, ich beschäftige mich lieber mit Grillparzer als mit Goethe, lieber mit Marie von Ebner-Eschenbach als mit Thomas Mann, lieber mit Theodor Kramer als mit Bert Brecht, lieber mit Marlen Haushofer als mit Ingeborg Bachmann.
Was mich jedenfalls konkret mit Grillparzer verbindet, ist die Geburtsstadt: Wien und der Beruf des Vaters: Rechtsanwalt. Von Wien wollte ich nie weg, von der vorherbestimmten juristischen Laufbahn schon. Mein Vater war schließlich zu Kompromissen bereit und suchte mir den Beruf der Richterin schmackhaft zu machen; da könne man nachmittags um drei nach Hause gehen und tun, was man wolle. Mir erschien es damals entschieden reizvoller, schon in der Früh damit anzufangen, außerdem schreckte mich bereits das Studium mit der Phalanx der Paragraphen ab. Ich studierte also Germanistik, Philosophie, Geschichte und Theaterwissenschaft, nicht für das Lehramt, sondern einfach so. Meine Eltern in ihrer Lesewut waren daran nicht unschuldig. Die juristische Familienprägung (meine Mutter hatte ebenfalls, wenn auch lustlos, Jus studiert) dürfte gleichwohl ihre Spuren hinterlassen haben, man sagt mir einen gewissen Gerechtigkeitsspleen sowie eine anstrengende Neigung zu Sophisterei und Detailverbissenheit nach. Ein Quantum Widerspruchsgeist, gepaart mit einer eher niedrigen Erregungsauslösungsschwelle, führt mich nicht selten in eine innere Opposition, die sich nicht auf das Feld der Literatur, Literaturwissenschaft oder Literaturkritik beschränkt. Ich kann mich auch über zeitgeistige Sprachverkehrsregeln aufregen, über den Niedergang der Kaisersemmel oder den Niveauverlust der Spanischen Hofreitschule.
Nicht nur meiner Studienwahl merkt man die Vorliebe für das Überflüssige und Nutzlose an: für die Lyrik, für das Altgriechische, für die Kunst der Hohen Schule. Nützlich wäre es wohl auch gewesen, sich zwischen Kritik und Wissenschaft beizeiten zu entscheiden. Das erste ohne das zweite erschien mir jedoch allzu beliebig, das zweite ohne das erste allzu elfenbeinern. Außerdem hätte es zur Entscheidung eines Lebensplans bedurft, einer zielgerichteten Ambition, wohingegen ich für mein Tun und Lassen bestenfalls eine produktive Planlosigkeit in Anspruch nehmen kann.
Grillparzers Bericht hat die impulsgebende Akademie nie erreicht. Er fand sich zur Überraschung aller im Nachlaß. Was der Dichter darin über gekrönte Häupter, über Vorgesetzte, Förderer und Zensoren, aber auch über Kollegen wie Friedrich Schlegel und Heinrich Heine zu sagen hat, wollte er mit gutem Grund nicht veröffentlicht sehen. Seine misanthropischen Anwandlungen in Gesellschaft erklärt er damit, daß für ihn „das Schrecken aller Schrecken die Langeweile“ sei – Grillparzer: „Die vorzugsweise Beschäftigung mit Büchern, mit guten nämlich, erzeugt eine Gewohnheit, interessiert zu sein, die sich endlich zum Bedürfnis steigert.“ Sein Interesse an seinem autobiographischen Bericht reichte immerhin für 160 engbeschriebene Seiten – weitläufig ist er nicht geworden. Mich bewahrt davor zum Glück das Reglement. Ich fühle mich geehrt und beschenkt und danke Ihnen für die Aufnahme in Ihren Kreis.