Malcolm Pasley

Germanist
Geboren 5.4.1926
Gestorben 4.3.2004
Mitglied seit 1983

Mit vierzehn Jahren begann ich Deutsch zu lernen; teils um dem lästigen Griechisch zu entkommen, teils weil der Krieg eben ausgebrochen war und es mich lockte, in die Mentalität des Gegners einzudringen. Die Sprache zog mich sofort an, und außerhalb des Unterrichts las ich alles, was ich auftreiben konnte. Ich kann heute nicht behaupten, daß ich viel davon verstanden hätte. So erinnere ich mich zum Beispiel, einmal im »Literarischen Klub« meines Internats über eine Heinrich-von-Kleist-Monographie referiert zu haben, die meiner Meinung nach besonders aufschlußreich war. Das war sie wohl auch, aber eben nicht für Kleist: ich hatte nämlich die deutlich nazistische Tendenz dieser Arbeit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.
Nach der Schule kamen für mich Jahre, in denen ich, vom Literarischen völlig abgeschnitten, meine Sprachkenntnisse an Abhorchstellen und als Dolmetscher anwenden mußte, um schließlich ein schwer zertrümmertes Deutschland kennenzulernen. Damals bastelte ich mir ‒ da die normale Sprache nicht mehr auszureichen schien ‒ aus Bruchstücken nutzlos gewordener Geheimkodes wirre Gedichte zusammen, unter dem Titel: Kriegsende.
Als ich ’47 mein Studium in Oxford beginnen konnte, verstand ich jedoch unter Literatur (so scheint es mir jedenfalls rückblickend) kaum etwas mehr als Dokumente zur Sozialgeschichte. Daß ich davoii' rechtzeitig abgekommen bin, verdanke ich vor allem Max Rychner, einem früheren Mitglied dieser Akademie, mit dem ich in Zürich bekannt wurde. »Aber Herr Pasley«, sagte er, als ich ihm erzählte, daß ich Untersuchungen zum deutschen Sozialroman um die Mitte des 19. Jahrhunderts anstellen wollte, »in welche Wüste haben Sie. sich denn verirrt!« Ich vernichtete das Material, das ich gesammelt hatte. Und nahm mir vor, lieber die Gesellschaft jener eigenständigen Geister aufzusuchen, deren Werk für mich in irgendeiner Weise eine persönliche Aufforderung zu bedeuten schien.
Die ersten Vorlesungen, die ich in Oxford hielt, galten einem solchen Schriftsteller, einem Darmstädter, der Anfang der 50er Jahre bei uns fast unbekannt war, so unglaubwürdig dies heute klingen mag. In der damals maßgeblichen deutschen Literaturgeschichte in englischer Sprache wurde Georg Büchner mit genau acht Zeilen erledigt ‒ und zwar in einem Absatz, der mit den Worten anfing: »Of the minor writers... little need be said«. Mir schien es hingegen, daß ich nach acht Stunden kaum das Allernotwendigste über ihn gesagt hätte.
Von Büchner kam ich zu Nietzsche und zur Literatur der Jahrhundertwende; von dort aus zu Franz Kafka. Durch Zufall lernte ich bald Kafkas Verwandte und Erben kennen, so daß ich im Jahre 1961 den Auftrag erhielt, den Hauptteil seines handschriftlichen Nachlasses nach Oxford zu bringen und gewissermaßen in meine Obhut zu nehmen. Die Aufgaben, die mir daraus erwuchsen (vor allem die Mitarbeit an der Erforschung und der Herausgabe dieses Nachlasses), waren gerade die Aufgaben, die mich am meisten verlockten. Ein seltener Glücksfall ‒ wie ich mich überhaupt glücklich schätze, mich seit Jahren mit einem Schriftsteller befassen zu können, der mich jeden Tag aufs Neue erstaunt.
Man sagt (auch Kafka scheint dies vermutet zu haben), daß der von außerhalb Ankommende, und sei er noch so unwissend, gelegentlich
Dinge zu erspähen vermag, die den Einheimischen nicht aufgefallen waren. Für jemand, der sich in einer fremden Literatursprache aufhält, ist das natürlich ein tröstender, ja fast ein lebensnotwendiger Gedanke. Und mit der Möglichkeit, daß es auch zutreffen könnte, scheint gerade diese Akademie zu rechnen. Denn wie wäre es anders zu erklären, daß Sie von Anfang an, aus freien Stücken und mit offenen Augen, ständig so viele Ausländer in Ihren Kreis aufgenommen haben? Für die Ehre, die Sie mir selbst damit erwiesen haben, danke ich Ihnen.