Claire de Oliveira

Germanistin und Übersetzerin
Geboren 21.5.1961
Mitglied seit 2016

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
als ich anfing zu übersetzen, war ich zehn Jahre alt und des Deutschen so weit mächtig, daß ich jedes zweite Wort nachschlagen mußte. Diese erste, selbstauferlegte Aufgabe betraf das Libretto der Zauberflöte, dessen französische Version ich mit begeisterter Vermessenheit verfassen wollte. Zu diesem Zweck benutzte ich Kohlepapier zwischen den Seiten eines Schmierhefts: ein Blatt für mich, das andere für die Nachwelt. Damals wußte ich nicht, daß eine französische Fassung dieser Oper schon existierte und daß sie, im Unterschied zu meiner, fehlerfrei war. Denn die meisten Wörter fehlten in meinem Liliput-Lexikon, was mir aber nicht die Lust nahm, dieses Machwerk hartnäckig weiterzuführen. Wenn ich aufrichtig sein soll, ergeht es mir auch heute noch so, womöglich noch peinlicher. Daß ich in ein größeres Wörterbuch investiert habe, ist wohl die einzige Veränderung meiner Herangehensweise: Ich arbeite immer noch an schon übersetzten Werken, von der Zauberflöte bis zum Zauberberg, mit einer wahnsinnigen Neugier und Verwirrung, denn Wörter werden um so geheimnisvoller, je tiefer man sie ergründet. So schwanke ich zwischen Vertrautheit und Fremdheit und kann schwer entscheiden, welches Gefühl für die Arbeit förderlicher ist.
Immer wieder kreuzte die deutsche Lyrik meinen Weg, wie ein Schicksalswink – oder war es eine Wirkung des Zufalls? Während einer Klassenfahrt nach Ephesos kam ein türkischer Verkäufer auf mich zu und bot überraschend an: »Wollen Sie mal den Heinrich?« – »Welchen?« fragte ich – »Na, den Heinrich Eyine!« Es war eine Heine-Ausgabe zweiter Hand, die ich erstand; vor den schimmernden Ruinen, die Heine gefallen hätten, konnte ich das Gedicht Abenddämmerung lesen und war mir unschlüssig, ob man die gewagte Schönheit des Kompositums »wiegenliedheimlich« je rüberbringen könnte. Ich bezweifle es auch heute noch. Aber ein gewisser Schock hatte stattgefunden: So entstand der Wunsch, die empfundene Emotion durch eine nachahmende Tätigkeit zu verarbeiten, die nicht nur reproduktiv, sondern womöglich auch produktiv wäre.
Als Germanistin an der Sorbonne habe ich bei deutschsprachigen Autoren unschätzbare Kostbarkeiten entdeckt und mich sehr bald bemüht, sie durch eigene Übersetzungen der frankophonen Leserschaft zugänglich zu machen. Dafür möchte ich Bernard Lortholary und Jean-Marie Valentin, zwei bedeutenden Persönlichkeiten der Germanistik in Frankreich, meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Bei der Textwahl habe ich Herausforderungen annehmen wollen: Botho Strauß, Brigitte Kronauer, Elfriede Jelinek, Joseph Roth, Stefan Zweig, Elias Canetti, Thomas Mann ... Beim Übersetzen von deutschen und rumänischen Schriftstellern – wie etwa Geo Bogza, Gheorghe Crăciun oder Magda Cârneci – entstand ein Gefühl in mir, und zwar, daß das Wertvollste des Denkens eher im Hin und Her zwischen den Kulturen zu erfassen ist als im Verharren innerhalb einer einzigen. Wem würden Mehrsprachigkeit und Doppelkultur nicht als Ansporn dienen? Aus diesem Grund promovierte ich über moderne rumäniendeutsche Lyrik – damals führte ein solches Gebiet ein Nischendasein. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde diese Minderheitenkultur als fester Bestandteil deutscher Literatur in europäischer Perspektive entdeckt. Es mag auch der übersetzerischen Tätigkeit zugute kommen, wenn man sie sozusagen als Komparatistik im umfassenden Sinne betreibt, denn Literaturwissenschaft und Übersetzung sind kommunizierende Röhren, die einander bedingen. Thomas Manns Schriften werden womöglich triftiger von einem ausgelegt, der sie durch verschiedene Filter hat fließen lassen. Übersetzung gilt als sinnstiftendes, hermeneutisches Unternehmen. Ein heuristisches ist es aber auch: In das komplexe Gebilde eines Textes sind Bedeutungsschichten eingebettet, die der Übersetzer beim Forschen lesbar machen kann. Es hat mich gefreut, gewisse Details des Zauberbergs ausdeuten zu können, die noch nicht aufgehellt worden waren, wie etwa Anspielungen auf französische und italienische Autoren. Diese Fundstücke der neuen kritischen Ausgabe könnten der internationalen Forschung zugute kommen. So gesehen ist Übersetzung kein bloßes Spiegelbild des Originals, sondern eher der Erkenntnisstand einer gewissen Zeit über das Original. Sie ist so zweckdienlich wie vergänglich.
Allmählich habe ich gelernt, daß Übersetzen sowohl eine Qual als auch ein Genuß ist. Eine Qual, weil man mit der langsam gefundenen Formulierung selten zufrieden ist. Ein Genuß ist es aber, zwischen den Sprachen zu schweben, und zwar in der Arbeitsphase, wo man, nach dem Lesen eines Satzes, sich die Empfindungen und Gedankengänge wortlos aneignet und sich in einem Schwebezustand befindet, der demjenigen gleicht, den August Wilhelm Schlegel mit Begeisterung beschrieb, nämlich »Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Teil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen«. Besser kann man es nicht ausdrücken: Es ist ein durch Reflexion und Einfühlungsvermögen bewirktes Erfassen eines Objekts. Ein für den Übersetzer wollüstiger Augenblick, der zuerst einfach nur wortlose Aufnahme von sinnlich und geistig Gegebenem ist. Wenn man von diesem reinen Empfinden und Erkennen ganz erfüllt ist, genießt man das lustvolle Hinuntergleiten bis zur Zielsprache, in der ein Inhalt zu Hause sein wird. Fremde Inhalte einzubürgern macht so viel Spaß wie das losgelöste Schaukeln zwischen den Sprachen. Wer dem Lesen frönt, kann sich dieser Liebe rückhaltlos ergeben.
Günstig ist es, wenn kritische Akribie mit ästhetischen Qualitäten verschmilzt, um eine textgetreue Umschreibung entstehen zu lassen. Manchmal sehe ich diese Kunstfertigkeit wie eine Gratwanderung zwischen Übermittlung und Übertretung – Übertretung als gewagter und notwendiger Verstoß gegen Wörtlichkeit. Und wenn man gewisse Grenzen überschreitet, ist alles übersetzbar, da die Menschen weltweit ähnliche Gedanken konzipieren und nur die oberflächlichen Sprachstrukturen verschieden sind. Nur eines sei unübersetzbar, meint Marcel Proust, und zwar die Schönheit der Musik, das eigenartige Vergnügen an einem Musiksatz. Musik als internationale Sprache und als Instrument für den Übersetzer, der Rhythmus und Musikalität nachahmt ...

Mich hat die Lust an der deutschen Kultur, dank der Berührung mit romanischen Sprachen, zu meiner eigenen Bestimmung geführt: zur täglichen Beschäftigung mit deutschsprachiger Literatur, die neu vermittelt werden mußte. Es sei mir erlaubt, gleich auf Anhieb einen Wunsch zu äußern: Unsere vielgestaltige Gemeinschaft vereinigt die Liebe zu den Werken deutscher Sprache, die in der heutigen multikulturellen Gesellschaft immer verschiedenartiger werden. Die heutige Welt ist eine unruhige: Wenn wir durch unser Schaffen und unsere Gespräche dazu beitragen könnten, sei’s nur ein Quentchen Freude an dem vielseitigen Anderssein in diese ängstliche, am Anderen zweifelnde Welt zu bringen, wäre es ein beachtenswerter Gewinn. Schreiben ist strenggenommen ein Akt des Widerstandes gegen Barbarei und Brutalität. In Zeiten der Gewalt bin ich froh, daß ich Texte von Thomas Mann oder Herta Müller vermitteln konnte, die sich beide, wenn auch ganz verschieden, für den Fortschritt der Humanität einsetzen. Sehen Sie, die Naivität meiner zehn Jahre habe ich behalten, nämlich die Idee, daß vermittelte Kultur zur Eintracht der Völker beitragen kann. Die Akademie für Sprache und Dichtung, ein Raum, der vom geistigen Austausch lebt und als solcher eine Wohnstätte des Geistes ist, wird mir eine Heimat der Kultur sein. So danke ich Ihnen von Herzen für die Ehre, die Sie mir durch die Aufnahme in die Akademie haben zuteil werden lassen.