Odo Marquard

Philosoph
Geboren 26.2.1928
Gestorben 9.5.2015
Mitglied seit 1995

Sigmund-Freud-Preis

Herr Präsident, meine Damen und Herren, zur Verjüngung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung tauge ich – 67jährig – nur dann, wenn nicht meine abgelaufenen Lebensjahre zählen, sondern meine abgelaufenen Wachzeiten. Ein Vielschläfer ist da jünger als ein Wenigschläfer; und ich bin ein Vielschläfer. Auch das hat – wie manches bei mir – mein philosophischer Lehrer Joachim Ritter mitbewirkt. Als ich in Münster sein Assistent wurde, monierte er – der immer schon vor 5 Uhr früh am Schreibtisch saß alsbald, daß ich erst gegen Mittag aufstand. »Ich war«, sagte er mir, »auch einmal so eine Nachteule wie Sie; aber das kann man ändern: man beginnt damit, daß man früh ins Bett geht; das Weitere ergibt sich von selbst.« Seither gehe ich früh ins Bett und stehe spät auf; es ist manchmal wirklich nicht einfach, meinen täglichen Mittagsschlaf dazwischenzubekommen. Ich bin Jahrgang 1928, geboren in Stolp in Hinterpommern. Zur Schule ging ich zunächst ebenfalls in Hinterpommern: in Kolberg. 1940 mit zwölf kam ich – ich erwähne das, um es nicht nicht zu erwähnen – auf ein Naziinternat, eine Adolf-Hitler-Schule, war schließlich Luftwaffenhelfer und beim Volkssturm; im August 1945 mit siebzehn hatte ich meine Kriegsgefangenschaft schon hinter mir. Ich widerstand meiner Neigung zur Architektur und Malerei und studierte Philosophie: in Münster bei Joachim Ritter, in Freiburg bei Max Müller, der mein Doktorvater wurde. 1963 habilitierte ich mich in Münster und erreichte dadurch mein Lebensziel: Privatdozent zu sein. Zwei Jahre später ging es schief mit diesem Lebensziel; denn da war ich nicht mehr Privatdozent, sondern ordentlicher Professor für Philosophie in Gießen. Meine Philosophie nannte und nenne ich Skepsis und die Skepsis den Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind. Sie paralysiert die Versuchung, sich einer einzigen totalitären Alleingewalt zu unterwerfen. So war meine Skepsis die Antwort auf die Erfahrung bis 1945. Mein Mahnsatz – den Beleg dafür hatte ich gerade hinter mir – war zunächst: ›ich‹ kann mich irren. Ab 1968 habe ich ihn ergänzt: auch ›andere‹ können sich irren, z. B. wenn sie – durch Flucht aus dem Gewissen-Haben in das Gewissen-Sein – das richtige ›nie wieder Nationalsozialismus‹ zum falschen ›nie wieder Identifizierung‹ pervertieren. Darum wurde meine Skepsis zur Absage an die Negationskonformismen, an das ›fiat utopia, pereat mundus‹, und so zum Schritt in die sanften Identifizierungen: die mit der Lebenskürze; die mit den Kompensationen; die mit der modernen Welt; die mit der Bundesrepublik; die mit der Bürgerlichkeit; die mit der mittelhessischen Nahwelt: auf den Tag genau heute wohne ich – zusammen mit meiner Frau – seit 30 Jahren in Gießen, die letzten zweieinhalb Jahre als Emeritus, nun also endlich doch noch als eine Art Privatdozent. Und immer noch fallen mir Denken und Schreiben schwer; aber es lohnte sich nicht, wenn das anders wäre. Ich brauche die Leichtigkeit als Form, um mich auszuhalten, mich an den Denk- und Schreibtisch zu locken und um Buße zu tun dafür, daß ich meine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästige. Offenbar hat das der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nicht mißfallen: 1984 durfte ich ihr danken für den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, und heute danke ich ihr für meine Wahl zu ihrem ordentlichen Mitglied, über die ich mich herzlich freue.