Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin
Geboren 13.12.1962
Mitglied seit 2018
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Mitglieder der Akademie,
da ich mich in den letzten Jahren intensiv mit den Brüdern Grimm beschäftige, ist mir meine Wahl zum Mitglied der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung wie das Ende eines Märchens vorgekommen.
Und gerade in der Form eines Märchens werde ich Ihnen jetzt meine
Biographie zusammenfassen, denn das Märchen ist doch die beste literarische Gattung, um einen Lebensweg mit seinen vielen Irrungen und Wirrungen, Lichtern und Schatten in nur knapp drei Seiten zu erzählen.
Das Ende kennen Sie schon. Lassen Sie mich Ihnen nun den Rest
des Märchens erzählen.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das wuchs und gedieh friedlich
und in guter Einigkeit mit seinen Eltern und vier älteren Geschwistern in einem alten Königreich namens Spanien. Die kleine Stadt, in der es lebte, hieß Salamanca und war wegen ihrer uralten Universität, in der viele weise Gelehrte ihre geheimen Künste an die Studenten weitergaben, in allen benachbarten Ländern berühmt. Weil das Mädchen gerade an einem magischen 13. Dezember zur Welt kam, an dem es ungewöhnlich stark schneite und die kleine Stadt wie von Millionen Spiegeln bis ganz fern in den Himmel funkelte, erschienen die ›weisen Frauen‹ zahlreich zu seiner Geburt und beschenkten es mit ihren besten Gaben. So wurden ihm Gesundheit, ein ruhiges Gemüt und die französische Sprache und ihre gesamte Literatur in die Wiege gelegt, denn die Mutter des Mädchens war mal eine hübsche und wissbegierige Jungfer aus Frankreich gewesen, die in der Eliteschule École Normale Supérieure de Paris ihren Abschluss als Professorin absolviert hatte. Und wie sie einen kurzen Studienaufenthalt in Salamanca machte, da mischten die weisen Frauen, die im Geheimen für das Wohl dieser Familie sorgten, einen Liebestrank in ihren Wein, und im dritten Monat spürte sie eine unüberwindbare Liebe für einen spanischen Freier, der zu dieser Zeit auch in dieser Stadt seinen Abschluss als Romanist machte und der klug und gescheit war und dabei schöne Augen und schwarz schimmerndes Haar hatte. Alsbald wurde Hochzeit gefeiert, beide wurden Professoren an der Universität, und sie brachten drei Söhne und zwei Töchter zur Welt, die sie zärtlich liebten.
Und es wird erzählt, dass die Wirkung des magischen Tranks so stark war, dass die Liebenden nur Augen füreinander hatten und ihre Kinder Stunden oder gar Tage lang vergaßen, und so wuchs ihr jüngstes Mädlein wie in einem entrückten und eingeschlafenen Schloss auf.
Einmal am Tag pflegten aber die Eltern mit ihren Kindern zusammen zu tafeln – so konnten sie feststellen, ob alle fünf Kinder noch vollzählig waren – und sprachen dabei über die magischen Grimoires, in denen sie zurzeit lasen. Da der Vater die französische Mediävistik über alles liebte, so waren die den Kindern bekanntesten Helden ein gewisser Ritter namens Roland, ein schöner und braver Knappe namens Perceval, ein sehr schlauer Fuchs namens Renard oder aber das unglückliche Liebespaar Tristan et Iseut. Und immer wenn es Langeweile hatte, ging das Mädchen in die Bibliothek des Hauses, nahm ein großes Buch und las darin, und so begann es sehr früh, die Hunderte von Büchern, die alle Wände des Hauses bedeckten, zu verschlingen und die gesamte französische Literatur mit.
So lebte das Kind während der Winterzeit. Aber wenn der Sommer kam, reiste die ganze Familie in ihrer Kutsche ins Feenland, aus dem die Mutter kam. Dort war es nie zu heiß und nie zu kalt, das Meer funkelte blau, und wenn die Menschen sprachen, klang es, als sängen sie. Und all die Normen und Regeln des düsteren Königreichs galten hier nicht. Der Kontrast zwischen beiden Ländern bestimmte die Kindheit des Mädchens und ließ es früh erfahren, dass die Welt bunt ist.
So gingen die Kinderjahre langsam einher, die älteren Geschwister
zogen hinaus in die Welt, ihr Heil zu suchen, das Mädchen wuchs zu einer jungen Frau heran und beschloss, sich in eine neue, ihr unbekannte Welt aufzumachen: Es lernte Deutsch. Das Studium der Germanistik brachte sehr viele Reisen nach Deutschland mit sich, und die junge Frau verliebte sich ganz und gar in das fremde Land und in die deutsche Sprache, doch diese Liebe ließ ihr keine Ruhe mehr, denn früh musste sie entdecken, dass ihre Geliebte kein zartes Mädel ist, das sich lächelnd erobern und liebkosen lässt, sondern vielmehr eine starke Walküre, die ihre Keuschheit mit Händen und Füßen verteidigt, so gut, dass kein Fremder sie jemals ganz bezwingen kann. Dennoch sollte diese unerreichbare Liebe die ganze Existenz der jungen Frau bestimmen. Und wie sie ihre Ausbildung beendet hatte, da ging sie endlich für drei Jahre nach Deutschland.
Es begab sich aber, dass einmal, als die junge Frau in einer Bibliothek in München forschte, sie einen jungen spanischen Philosophie-Dozenten traf, und beide verliebten sich bald, und bei den unendlich vielen deutschen Schriftstellern und Philosophen, die sie gemeinsam erforschten und übersetzten, hätten die beiden beinahe das Vaterland vergessen, aber als alle möglichen Einkommensquellen ausgeschöpft waren, beschlossen sie ihr Glück in ihrem eigenen Lande zu suchen. Wiederum verstrich dort eine glückliche Zeit: Nun lebten beide in einer Stadt am Meer, Vigo genannt, und gaben dort an der Universität ihr Wissen weiter; sie heirateten, bauten sich ein großes Haus auf dem Lande, und bald darauf gebar die junge Frau ein Büblein, so schön und fein wie der Mond, und beide Eltern hatten es von Herzen lieb.
Doch langsam gingen die Wege der Ehepartner auseinander, und ihr Leben erfuhr eine neue Wende. Die weisen Frauen hatten doch auch für sie ihren Trank gemischt, aber ein böser Zauberer, der überall Neid und Missgunst säte, vergoss unbemerkt den Wein, den das Paar während
des Umtrunks des Hochzeitsfestes zusammen hätte trinken sollen. Zum Glück blieb jedoch ein kleiner Tropfen am Rande des Bechers hängen und berührte die Lippen des Paares, und so blieben die ehemaligen
Liebenden für immer eng verbunden, und mit der Zeit sollten sie sogar gemeinsam einen eigenen Verlag für Philosophie und Literatur
gründen, in dem sie ihre deutschen Lieblingswerke veröffentlichen
konnten. Da die Frau anfänglich mit ihrem Partner deutsche Philosophie übersetzt hatte, hatte sie die Schwierigkeiten der deutschen Sprache schon sehr früh im Kern entdeckt und sie auszutricksen gelernt. Und sie hatte ihren Spaß dabei, gerade besonders schwierige und verschlüsselte Texte zu entziffern und in ihrer eigenen Sprache wiederzugeben. Nach viel Heidegger und Schelling kamen verschiedene Texte von Goethe (Faust z. B.), Fontane oder den Grimms dazu, und von Anfang an und immer wieder Hölderlin, dem sie in die tiefsten Abgründe und auf die höchsten Gipfel der deutschen Sprache mit einem berauschenden Schwindelgefühl folgte.
Es trug sich aber zu, dass der Außenminister ihres Königreiches von
ihrer Beschäftigung mit der deutschen Literatur hörte; er bot ihr einen wichtigen Posten in Deutschland an, und so ward sie Direktorin des spanischen Kulturinstitutes Instituto Cervantes in Bremen und später in Hamburg, und ihr Knäblein folgte ihr, und sie lebten noch einige Jahre glücklich zusammen. Als der Sohn aber erwachsen ward, sprach er zu seiner Mutter, dass er nicht mehr daheimbleiben, sondern in die weite Welt gehen wolle, und so herzte er sie, zog aus, und lernte dann in London die Magie der Bilder kennen und wurde Filmregisseur.
Inzwischen waren schon zehn Jahre verflossen, und als die Zeit herangerückt war, in der die Frau unausweichlich in ein neues fernes Land versetzt werden sollte, da wurden Kummer und Ungewissheit in ihrem Herzen rege, und sie hatte keinen anderen Gedanken, als dass sie nun weg von Deutschland musste. Und da sprach die Frau so in ihrem Herzen: Wenn ich unmöglich in diesem Lande bleiben kann, so möchte ich lieber diesen Posten für immer verlassen – und sie kehrte an ihre alte Universität in ihre Heimat zurück und lebte seitdem in Frieden und immer von ihren geliebten deutschen Klassikern umgeben in ihrer Wohnung in dem Hafen von Vigo.
Aber die guten Feen hielten für ihren Schützling noch ein letztes Geschenk bereit: Heute, am Biel-See, wird seine Treue zu der deutschen Sprache tausendmal belohnt. Wilhelm Grimm muss also im Unrecht gewesen sein, denn es ist scheinbar so, dass auch noch in den heutigen Zeiten »das Wünschen geholfen hat« (Kinder- und Hausmärchen 1, Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich: »In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat«).