Herr Präsident, verehrte Mitglieder
der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,
lassen Sie mich mit einem Talisman beginnen: »Gottes ist der Orient /
Gottes ist der Occident / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden
seiner Hände.« Eine Landkarte umgeben von diesen Versen hing
über meinem Kinderbett in einer Reihenhaussiedlung am linken Niederrhein,
wo ich aufgewachsen bin. Höhepunkte des Familienlebens
mit traditioneller Rollenaufteilung und zwei jüngeren Brüdern waren
die Mahlzeiten in Anwesenheit des sonst physisch nur wenig präsenten
Vaters. Vor dem Sonntagsfrühstück liest er, statt Tischgebet, Gedichte,
besonders gerne: »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden«. Und
er geht mit uns ›raus‹: Die Sonntagswege führen an den Niederrhein,
mächtiger Fluss zwischen den Deichen und den Pappeln, die Napoleon
gepflanzt haben soll. Die großen Lastkähne aus Holland machen Wellen,
die uns die Füße nässen. Wie die Zirkuswagen, die manchmal auf
den Rheinwiesen gastieren, ist das zum Greifen nahe fremde Leben mit
Wäscheleine und Kinderwagen, das auf solchen Kähnen an uns Kindern
fast wie im Film vorbeizieht, Kristallisationspunkt für das Fernweh.
Sommernachts die Züge vorbeifahren hören, das auch.
Ich mag den Kirschbaum im Garten, die Birke vor der Haustür, die
riesige blassrosa blühende Kletterrose, die das schmucklose Reihenhaus
in ein Dornröschenschloss verwandelt, aber ich fühle mich nicht sehr
zuhause. Die Menschen im Laden, die Nachbarn im Dorf sprechen anders,
sind anders. Unsere Eltern kommen woanders her; die Straßennamen
der Neubausiedlungen in unserer Nachbarschaft – Elbinger
Straße – sind mir vertraut aus ihren Erzählungen. Ich bin dreizehn, als
meine Mutter mich mitnimmt nach Jena, in die Stadt ihrer Kindheit:
Sie erzählt mir vom Hunger und wie es war, als nach dem großen Bombenangriff
die Stadtkirche brannte. Sie zeigt mir die Zinne in Schillers
Garten. »Hier hat ihn Goethe besucht« – wir fahren nach Weimar,
wohnen bei alten Bekannten ganz nah am Ilm-Park. Am wichtigsten
ist meiner Mutter der Jakobsfriedhof mit dem Grab von Christiane:
»Der ganze Gewinn meines Lebens / Ist, ihren Verlust zu beweinen.«
So lerne ich Goethe kennen.
Ich lese dann eher Max Frisch, Georg Trakl, Christa Wolf und Sarah
Kirsch, Ingeborg Bachmann, Simone de Beauvoir. Nach der Schule bin
ich ein Jahr in London, es fasziniert mich die überraschende Nähe der
Verfremdungsästhetik bei den Frühromantikern und Bertolt Brecht –
und wie es sich anfühlt, in einer anderen Sprache zu leben. Dass ich
mich nicht für Jura, sondern für Germanistik entscheide, ist kein Zufall,
auch Göttingen nicht, dort hat mein Vater studiert. Dabei geht es
mir nicht um die Deutung von Dichtung. Susan Sontags Plädoyer für
eine Erotik der Kunst – »Against Interpretation« – hatte mich noch
in der Schule nachhaltig beeindruckt. Meine Neugier gilt der Sprache.
In Göttingen aber war die Linguistik damals verwaist – also doch vor
allem Literaturwissenschaft. Im Zwischenprüfungsseminar studieren
wir Goethes West-östlichen Divan, hier finde ich unverhofft die Talismane
meiner Kindheit wieder. Die Abschlussarbeit will ich den paradoxen,
gleichzeitig hermetischen und dialogischen Kommunikationsstrukturen
widmen, die so unterschiedliche Autoren prägen wie Paul
Celan und den sprachtheologischen Metakritiker der reinen Vernunft,
Johann Georg Hamann. Schließlich vergleiche ich ihn doch ›nur‹ mit
seinem Zeitgenossen Jean Paul.
Danach gerate ich in die Editionswissenschaft, eigentlich wollte ich
ein Zweitstudium Biologie anschließen und Wissenschaftsjournalistin
werden. Aber Albrecht Schöne wünscht sich die philologische Bearbeitung
wenigstens der wichtigsten Handschriften aus der reich überlieferten
Werkstatt des Faust-Autors und bietet mir an, darüber bei ihm
zu promovieren. So komme ich wieder nach Weimar. Von 1987 bis 1991
verbringe ich viele Wochen über den Handschriften im Goethe- und
Schiller-Archiv, das mir meine Mutter damals respektvoll von außen
gezeigt hatte, und ich erlebe das Ende der DDR von beiden Seiten der
Mauer. Plötzlich gibt es in Jena das Elternhaus meiner Mutter – direkt
gegenüber wohnt eine Freundin aus dem Archiv. Wir kennen uns schon
länger, als wir feststellen: Ihr Großvater hat als Kind mit den Geschwistern
meiner Mutter gespielt.
Dann bin ich viele Jahre in München – wunderschön und sehr fremd
und die Geburtsstadt unserer beiden Kinder. Bei Föhn kann man die
Alpen sehen: Das vermisse ich in Frankfurt. Ich unterrichte Allgemeine
und Vergleichende Literaturwissenschaft: wunderbare Jahre, in denen
ich mich gemeinsam mit den Teilnehmern meiner Seminare auf den
Weg mache, das neue Fach zu erkunden. Besonders alle Fragen zwischen
den Sprachen; ich beginne ein Projekt zu Hamann als Übersetzer
und lande wieder bei Goethe und entdecke das Vergleichen von
Übersetzungen als Mittelpunkt seiner Weltliteratur-Idee.
Inzwischen bin ich nun schon fünfzehn Jahre in Frankfurt, in der
Stadt am Main, die sehr verschiedene Fäden meines Lebens verbindet
– Goethe-Stadt, Stadt am Fluss, Universität, Handschriften-Archiv
–
und die mich mit der Leitung des Freien Deutschen Hochstifts vor ganz
neue Aufgaben stellt. Diese kleine und gleichzeitig so weit gespannte Institution,
der traditionsreiche Träger des Frankfurter
Goethe-
Hauses,
beansprucht auf engstem Raum Wissenschaften, Künste und allgemeine
Bildung zu fördern und bietet damit ein vielseitiges Tätigkeitsfeld,
an dem ich nur auszusetzen habe, dass es mir zu wenig Zeit lässt
für Lektüre. Und zum Wandern: Ich habe jetzt gar nichts gesagt über
die Berge, das Licht und die Wolken, die mir doch fast noch wichtiger
sind.
Und ich habe auch nicht versucht zu ergründen oder gar zu rechtfertigen,
warum Sie, verehrte Mitglieder dieser ganz besonderen Akademie,
mich in Ihren erlauchten Kreis aufgenommen haben. Aber ich
freue mich darüber und sage Ihnen sehr herzlich Danke.