Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Akademiemitglieder, liebe Freunde,
so sehr es mich überrascht, heute hier stehen zu dürfen, ist es keineswegs
so überraschend, wie ich mir gern einreden würde. Diejenigen unter
Ihnen, die länger dabei sind, wissen, dass es die Akademie geschafft
hat, mich früh in ihren Bannkreis zu ziehen, und zwar durch einen einfachen,
aber sehr wirksamen Trick: diesen Kreis auf unerwartete und
zugleich vorausschauende Weise auszudehnen, auf eine Sprache und
eine Dichtung jenseits des Westens, so dass sich die Kreise der Akademie
schließlich mit meinem eigenen Wirkungskreis überschnitten, der
arabischen Poesie und der islamischen Welt im allgemeinen.
Wie ich dazu gekommen bin, mich damit zu beschäftigen? Regelmäßig
werde ich gefragt, ob ich entweder arabische Wurzeln habe oder
Muslim sei, eine Frage, die mir besonders oft entgegenschlägt, wenn
mich jemand beim Arabischsprechen belauscht. Ich könnte diese Frage,
die in jeder Hinsicht klar zu verneinen ist, als Kompliment auffassen.
Sie unterstellt aber eine Art von Kausalität, die einer Einschränkung
gleichkommt; die Reduktion auf die Herkunft beraubt das, was ist,
zwangsläufig eines Teils seiner Eigenständigkeit. Im Hintergrund solcher
Fragen schwingt, und sei es noch so unbewusst, ein Bild vom Menschen
mit, welches alles, was wir tun und sind, auf die eine oder andere
Weise mit unserer Herkunft erklären will; welches auf allzu klaren,
allzu binären Vorstellungen von Identität und Differenz beruht; und
welches folglich die Freiheit, die sich alle auf die Fahnen schreiben, immer
nur als Freiheit zur Entfaltung eines je Eigenen, Selbstidentischen
denkt, welches immer schon da gewesen sein soll, angelegt in irgendwelchen
Ursprüngen. Die Freiheit dagegen, die ich mir nahm, als ich
mit fünfzehn aus einer Laune und einer Langeweile heraus Arabisch zu
lernen begann, war die Freiheit der Abweichung, also genau der umgekehrte
Impuls: die Befreiung vom Eigenen.
Diese Abweichung und Befreiung war nicht nur eine vom großkulturellen
Umfeld, dem deutschen, europäischen, christlichen oder wie
auch immer wir es definieren, sondern zunächst eine von der familiär
vorgegebenen, entschieden kleinbürgerlichen Mikrostruktur. Dass dort
einer ohne Notwendigkeit und ersichtliche Gründe Arabisch lernte, zumal
ein Pubertierender, der doch andere Sorgen haben müsste, schien
aberwitzig.
Meine Eltern haben nie eine Universität von innen gesehen, nie eine
Fremdsprache gelernt und ließen sich nur zögerlich von dem Fernweh
anstecken, das die Deutschen im Lauf der siebziger Jahre allmählich
ergriff und meine Klassenkameraden in den Ferien immerhin schon
nach Spanien, Italien, Jugoslawien oder Griechenland fahren ließ. Der
Wunsch, aus diesem unverschuldet beschränkten Milieu auszubrechen,
indem ich mir fremde Sprachen aneignete, darunter das Arabische, ist
daher nicht als Rückkehr zu irgendwelchen Wurzeln zu erklären, sondern
nur als mutwillige Selbstentwurzelung.
Wie ich später begriff, war ich mit diesem Impuls keineswegs allein.
Fernweh und – freiwillige wie unfreiwillige – Selbstentwurzelung
haben viele Menschen seit jeher angetrieben, nicht nur die heutigen
Flüchtlinge, sondern schon in den achtziger Jahren viele der arabischen
Dichterfreunde, die ich wie durch ein Wunder ausgerechnet in meiner
Heimatstadt kennenlernte, in Köln, und mit denen ich zusammenzuarbeiten
und zu übersetzen begann.
Jede Beschäftigung mit dem Orient – ich bleibe bei diesem umstrittenen
Wort, weil ich glaube, wir löschen etwas Wertvolles aus unserem
kulturellen Gedächtnis, wenn wir es aufgeben –, jede Beschäftigung mit
dem Orient fällt in ihre eigene Zeit. Meine, unsere ist die der großen
Kontroverse über diesen Orient beziehungsweise über das, was auf ihn
folgte. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich dafür dankbar bin und diese
Kontroverse als Bereicherung empfinde, als Anstoß zur Klärung, dazu,
alles zu hinterfragen, zu durchwühlen und umzupflügen, was lange als
selbstverständlich galt, nicht nur den »Orient«, sei es den realen oder
den imaginierten, sondern auch die Grundlagen und vermeintlichen
weltanschaulichen Selbstverständlichkeiten, auf die wir selbst uns berufen,
also der sogenannte »Westen«.
Diese Hinterfragung, diese Veruneindeutigung, Verschiebung, Übertragung würde ich als mein eigentliches Metier bezeichnen. Es wundert
nicht, dass ich darüber vor allem Übersetzer und Essayist geworden
bin. Beides sind Bezeichnungen für Undefinierbares, Namen für Unbenennbares,
Grenzüberschreitendes, Verwandelndes. Was den Essay
betrifft, ist man gern bereit, dies zuzugestehen. Weniger wohl beim
Übersetzen, dürften einige denken; aber nicht einmal dann, wenn von
der Übersetzung von Poesie die Rede ist, zumal von fremdkultureller,
außereuropäischer? Davon unabhängig gilt: Wer der Übersetzung die
ihr mögliche Freiheit und Kreativität versagt, leistet einem Verständnis
des Übersetzens Vorschub, welches den Menschen, die Übersetzerinnen
und Übersetzer, eines Tages überflüssig macht.
Die Übersetzung ist daher für mich die Verkörperung unklaren Tuns
überhaupt. Sie ist in den herkömmlichen binären Kategorien nicht zu
fassen: Sie ist weder Kopie noch Original. Sie ist weder Identität noch
Differenz, ja mehr noch: Sie darf, will und soll weder das eine noch das
andere sein. Wäre sie einer von diesen beiden entgegengesetzten Polen,
dann wäre sie keine Übersetzung mehr, sondern selbst entweder das
eine oder das andere, das Fremde oder das Eigene.
Insofern beim Übersetzen also das ewig Unklare, Uneindeutige mit
am Werk ist, schließt es an meinen Urimpuls an: aus dem Eigenen,
aus der Vorstellung von Verwurzelung auszubrechen, nicht um in einer
anderen Verwurzelung zu landen, also eine Selbst-Umpflanzung zu
betreiben, sondern um in einem Dazwischen zu landen, welches erst
– und vielleicht allein – Freiheit für mich bedeutet.
Wo verorte, wo sehe ich mich angesichts dessen in der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung, mit welchen Elementen ihres
Namens identifiziere ich mich? Das Deutsche soll es nicht sein – nicht,
weil ich es nicht lieben würde, sondern weil es mir nicht genügt. Es
kann auch nicht die Akademie, geschweige denn das Akademische sein,
dafür trage ich nicht die nötigen Titel. Es darf, wiewohl ich das fast bedaure,
nicht einmal die Sprache sein, denn dafür fehlen mir allzu oft die
Worte. Dass es aber auch die Dichtung nicht sein kann, versteht sich
von selbst, denn meine Ehrfurcht vor ihr ist unendlich groß.
Erlauben Sie mir, dass ich mich im Rahmen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in den kleinen Wörtern verorte, in der
Konjunktion und in der Präposition, im Verbindenden und Sorgenden,
im und und im für. Sogar diese kleinen, einsilbigen Wörter sind
mehr, als man gemeinhin denkt, aber ich kann mich mit ihnen identifizieren
und zugleich ausreichend unbeschrieben bleiben; ich bin im
Rahmen dieser Identifikation selbst nicht mehr als eine Konjunktion,
eine Präposition, ein Weder-Noch, immer zwischen zwei Dingen oder
auf dem Weg zu ihnen, in einer Mission, die zum Glück nirgendwo hinführen
muss, sondern ihren Sinn im bloßen Für-etwas-Sein als erfüllt
betrachtet.
Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich auch angesichts solcher Bekenntnisse
fortan bei Ihnen mitspielen lassen wollen. Vielen Dank!