Marion Poschmann

Schriftstellerin
Geboren 15.12.1969
Mitglied seit 2017

Meine Damen und Herren, ich bin im Ruhrgebiet geboren, und ob das etwas aussagt, ob die Herkunft Einfluß nimmt auf die Texte, die man schreibt, habe ich lange in Frage gestellt und damit vielleicht gerade solch einen Einfluß bewiesen.
Ich bin aufgewachsen zwischen stillgelegten Zechentürmen. Zeche Heinrich auf meiner Seite der Ruhr, Zeche Carl Funke am jenseitigen Ufer, dazwischen der Fluß, die Auenlandschaft, Wald und Felder, eine Gegend, die nichts mehr von schmutziger Arbeit erkennen ließ, nur das Grundwasser wird noch immer abgepumpt aus den Schächten, und wer ein Haus kauft in jener Region, muß sich vor Bergschäden in acht nehmen, vor plötzlichem Sacken und Reißen und dem Verlust festen Grundes.
Meine Grundschulklasse wurde ins Ruhrlandmuseum geführt, zu den versteinerten Ammoniten und inkohlten Pflanzen, den nachgestellten Bergarbeiterwohnungen mit den Waschkrügen, Blechschüsseln, dem Emaillegeschirr. Wir machten eine Exkursion zum Steinbruch nicht weit von der Schule, schlugen Schieferplatten auf, suchten Fossilien. Im Bergbaumuseum Bochum fuhren wir in den Schacht ein, angetan mit Schutzhelmen, Gummistiefeln, Taschenlampen, ähnlich wie in den Tropfsteinhöhlen im Sauerland, die das Ziel von Familienausflügen waren. Damals setzte ich mich zu dieser Umgebung kaum in Bezug, aber wenn ich heute auch nur an die Namen der ehemaligen Zechen denke, Kunstwerk und Abgunst, Zwergmutter, Hundsnocken, Fettlappen, Wolfsbank, Schnabel ins Osten und Schnabel ins Westen, Gewalt oder Gottvertraut und schließlich: Nachtigall, frage ich mich doch, ob nicht hier ein romantischer Trend gesetzt wurde, das Schürfen unter Tage, altes Tiefengrundwasser, die glitzernden Mineralienberge, die im Duisburger Hafen lagerten, der in Kohle verwandelte prähistorische Wald, und ich frage mich weiter, hat sich hier nicht auch ein Gefühl für gesellschaftliche Verwerfungen ausgeprägt, denn durch das Ruhrgebiet zieht sich die A 40, Armutsäquator genannt, die den prekären Norden vom wohlhabenderen Süden trennt.
Im nachhinein schaffe ich mir die Erzählung einer Ruhrgebietsvergangenheit, von Stadtbrachen und Taubenzüchtern, während ich doch auch und vor allem in der Welt der Bücher lebte. Welcher Wirklichkeitsgrad, frage ich mich, kommt der Literatur, kommt der Dichtung zu, kann ich von einem Doppelleben sprechen, welche Rolle spielt die Erfahrung, welche die Einbildungskraft?
Abdrücke von Schachtelhalmen, Dinosaurierknochen, ist das Natur, oder sind das Ressourcen? Spuren der erst wenige Jahrzehnte zurückliegenden Verheerungen in der Stadtarchitektur, die gnadenlose Arbeit der Zeit, wie nistet sich so etwas ein in der menschlichen Seele?
Für mich ist die Dichtung die Kunstform, die das menschliche Bewußtsein am weitesten auszuloten vermag, die unterschiedlichsten Existenzformen und Identitäten in Erscheinung treten läßt. Lassen wir uns von Illusionen leiten? Wer oder was hat Macht über uns? Wie ist es um die Willensfreiheit bestellt, um die Freiheit des Geistes? Dichtung vermag diese Freiheit zu feiern, die Möglichkeiten des Denkens und Fühlens auszuweiten, Räume zu schaffen, die über den eigenen begrenzten Kreis hinausreichen. Aber sie mag uns auch Behutsamkeit lehren, ein Gespür dafür, daß nicht alle Möglichkeiten, die die Einbildungskraft nahelegt, auch realisiert werden müssen; sie mag uns dabei helfen, das Unabwendbare in jedem Leben zu akzeptieren. Ich freue mich sehr über die Aufnahme in diese Akademie, ich danke Ihnen.