Henning Ritter

Journalist, Schriftsteller und Übersetzer
Geboren 20.7.1943
Gestorben 23.6.2013
Mitglied seit 2010

Ich möchte mich Ihnen von einer Seite vorstellen, die mir selbst erst vor nicht allzu langer Zeit offenbar geworden ist. Ich las eine Rezension, in der an die einst so mächtige Gattung der »Commonplace Books« erinnert wurde, die heute von kaum einem ernstzunehmenden Autor praktiziert wird. Das war vor fünfhundert Jahren anders, als diese literarische Gattung eine bedeutende Rolle spielte. Erasmus war der große Lehrer, der die Aufmerksamkeit auf Weisheiten und Sprüche lenkte, die in den Büchern verborgen waren und die zusammenzutragen er als eine Technik der Selbstvergewisserung empfahl. Als »Commonplace Book Writer« bezeichnete man einen Autorentypus, der verstreutes Geistesgut unter eigenen Gesichtspunkten sammelte, diese Zitate zu regelrechten Büchern vereinte und sich so ein eigenes Buch schuf, dessen Auswertung zu seiner Lebensaufgabe werden mochte. Heute ist diese Gattung ausgestorben. Robert Darnton, der Verfasser der Rezension, konnte immerhin in England einen einzigen Vertreter dieses Genres ausfindig machen, einen gewissen Geoffrey Madan, dessen Notebooks 1981 erschienen. Mir wurde nun auf einmal klar, dass ich selbst, der ich meine Notizhefte publizierte, dieser kuriosen Gattung zuzurechnen sei. Dass es so lange gedauert hatte, bis mir dies klar wurde, dürfte damit zusammenhängen, dass zwar in jedem meiner Stücke ein wertvolles Zitat vorkam, dass sich daran aber Interpretationen anschlossen, die ich für die Hauptsache hielt. Meine Kommentare hatten das Commonplace Book zugedeckt. Ich durfte mich aber dennoch als ein später Vertreter dieser literarischen Gattung fühlen, deren ehrwürdige Genealogie jene Rezension mir gezeigt hatte.

Es fällt mir in dieser Perspektive auf, wieviel lieber ich Bücher herausgegeben, statt geschrieben habe, und wie ich dabei Autoren vorzog, die sich am Rande des Kanons befanden. Autoren wie John Aubrey in der Zeit Shakespeares, wie der allenfalls aus Büchners Dantons Tod geläufige Hérault de Séchelles, wie der Darwin der Notizbücher oder die skurrile Seite des großen Montesquieu, der eine eigene Schreibwerkstatt für allerlei Abseitiges einrichtete – alle diese und viele andere kuriose Autoren haben mich stets mehr angezogen als die Leuchten der ersten Reihe. Und dies nicht nur, weil sie dem Späteren freundlich entgegenkamen, sondern auch aus einem anderen Grund. Wie ich von Jacob Burckhardt lernte, sind die Künstler der zweiten Reihe die eigentlichen Träger des kulturellen Lebens. Alles hängt von ihnen ab: Sie verbreiten die großen Einsichten, sie bringen unter die Leute, was sonst nur über ihnen schweben würde, sie lassen in die Alltagssprache einfließen, was diese sonst vielleicht nie berühren würde.

Das jedenfalls mögen die Motive gewesen sein, die mich als Übersetzer und Herausgeber – unter anderem von Schriften Rousseaus und Jacob Burckhardts – in die Sphäre der Vermittlung lockten. Dass ich nicht in ihren Rand-zonen stecken blieb, verdankte ich einem Gespräch mit Joachim Fest, der mir die Einrichtung einer Seite »Geisteswissenschaften« im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorschlug. Gerade hatte ich dem wissenschaftlichen Ehrgeiz entsagt, da musste ich diesem Vorsatz wieder abschwören. Dreiundzwanzig Jahre lang versah ich die Aufgabe des verantwortlichen Redakteurs für Geisteswissenschaften und merkte dabei, dass es auch hier eine Vorstufe des ernsthaften Schreibens gab, für die ich eine gewisse Leidenschaft fasste – das Redigieren.

Noch kurz zu meiner Vita: Geboren wurde ich am 20. Juli 1943 in einem Dorf im Riesengebirge, aus Hamburg evakuiert, das an diesem Tage abbrannte. Hamburg ist der Ort der familiären Herkunft, Münster in Westfalen, wo mein Vater Joachim Ritter Professor für Philosophie war, wurde der Ort des Heranwachsens, und schließlich bot Istanbul für zwei Jahre, von 1953 bis 1955, die Möglichkeit, die zerstörten deutschen Städte, in denen wir aufgewachsen waren, zu vergessen. Ich studierte in Marburg, Heidelberg und Berlin Philosophie und Kunstgeschichte. Zu einem Abschluss brachte ich das Studium nicht, ein Ehrendoktor der Hamburger Universität half später aus. Unmittelbar bevor ich zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung ging, war ich Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Ich freue mich auf die Begegnungen und Gespräche im Rahmen der Aktivitäten der Akademie, der anzugehören ich als eine große Ehre empfinde – und als Anerkennung meiner literarischen Vorlieben.