Wolfgang Hilbig

Writer
Born 31/8/1941
Deceased 2/6/2007
Member since 1990

Georg-Büchner-Preis
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Meinen Vater habe ich nicht kennengelernt, er wurde schon 1942 bei Stalingrad als vermißt gemeldet, und ich wuchs in der Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits auf, mit meiner Mutter zusammen, die nicht auszog, weil sie auf die Rückkehr ihres Mannes wartete: sie wohnt noch heute in derselben Wohnung, wenn ich dort zu Besuch bin, schlafe ich noch heute in dem Bett, in dem ich wahrscheinlich auch geboren wurde, – 1941, in Meuselwitz, einer Kleinstadt im ehemaligen sächsisch-thüringischen Braunkohlenrevier, vierzig Kilometer südlich von Leipzig gelegen. Ich habe also die Bombenangriffe auf das Industriestädtchen Meuselwitz noch erlebt, wie unbewußt auch immer: da mein Großvater Bergmann war und unter Tag arbeitete, hatten wir, als Familienangehörige, das Recht, bei Fliegeralarm Schutz in den Kohlenschächten zu suchen, die sicherer waren als Luftschutzbunker. So bin ich schon als Zwei- oder Dreijähriger hunderte Meter tief unter die Erde gefahren, auf dem Höhepunkt der Luftangriffe mehrfach in einer Nacht; und ich weiß nicht, was prägender auf mich gewirkt hat: die Unruhe dieser Zeit, die später, notwendig vielleicht, zur Unbeweglichkeit geführt hat, oder die bewegungslosen Familienverhältnisse, die irgendwann in Unruhe umschlugen. Bis 1978 habe ich – nur durch ein paar Jahre wechselnden Aufenthalts in Wohnlagern einiger Außenmontagefirmen unterbrochen – bei meiner Mutter in dieser Wohnung gelebt, in einem Mietshaus im Besitz der Bergbaubehörden in einer Straße, da ausschließlich Arbeiter lebten. 1978 zog ich zum ersten Mal nach Berlin, kehrte aber nach einem Jahr wieder nach Meuselwitz zurück – seit 1980 bin ich (ich habe nachgezählt) zwölfmal umgezogen – manchmal mehrfach in einer Stadt –, und nun bin ich in Edenkoben, in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz, gelandet. Bis 1980 habe ich in der ehemaligen DDR in verschiedenen Industrieberufen gearbeitet, aber immer, nebenbei und insgeheim, geschrieben, als Kind schon habe ich irgendwann zu schreiben begonnen: wahrscheinlich war dieses Schreiben ein Lektüre-Ergebnis, oder auch das Ergebnis fehlender Lektüre; Lesen war für mich eine Hauptbeschäftigung in der Kindheit, und dies, obwohl ich mich damit dem dauernden Argwohn des Großvaters aussetzte: er stammte aus einem winzigen Dorf der polnischen Ukraine, war Waise und hatte nie eine Schule von innen gesehen. Er konnte weder lesen noch schreiben, verständlich, daß er sich um einen Teil der Wirklichkeit betrogen fühlte und allen seinen Nächsten das Lesen am liebsten verboten hätte. Alles was zwischen Buchdeckeln stand, war für ihn Lug und Trug, es führe mit der Zeit zur Trübung des Verstandes oder gar zum Irrsinn, und er wußte Beispiele dafür zu nennen. Als ich einmal, mit zwölf oder dreizehn Jahren, eine Biografie über Edgar Allan Poe las, glaubte ich die Worte des Großvaters bestätigt, und ich hörte mit dem Schreiben wieder auf: für ein Jahr ungefähr, bis ich, unter dauerndem schlechten Gewissen freilich, noch einmal von vorn begann. 1978 wurden einige Gedichte von mir im Hessischen Rundfunk gesendet, aus den daraus sich ergebenden Verlagskontakten entstand mein erster Gedichtband, den ich 1979 in Frankfurt am Main veröffentlichte, ohne Erlaubnis des sogenannten Urheberrechtsbüros der DDR , illegal also, was ich für folgerichtig hielt, da ich doch stets – von Ausnahmen abgesehen – in einer sonderbar natürlichen Form von Illegalität geschrieben hatte. Neben einigen unangenehmen Reaktionen auf diese Publikation erhielt ich plötzlich unerwartete Fürsprache von namhaften Schriftstellern: allen voran von Franz Fühmann, dem unermüdlichen Mentor der debütierenden oder noch nicht debütierenden Literaten der DDR, aber auch von Stephan Hermlin, Christa und Gerhard Wolf und anderen. Daraus resultierte sogar eine Buchveröffentlichung im Leipziger Reclam-Verlag und schließlich die Möglichkeit, in der DDR als freischaffender Schriftsteller zu leben. 1985 erteilten mir die Kulturbehörden der DDR eine befristete Reiseerlaubnis in die Bundesrepublik Deutschland; dieses Visum überschritt ich um ein Jahr, fuhr dennoch in die DDR zurück und das Visum wurde mir verlängert; es wäre ausgelaufen, als die DDR schon nicht mehr existierte. Seit 1985 also lebe ich in der Bundesrepublik bzw. auf dem Territorium der alten Bundesländer, in Hanau zuerst, dann in Nürnberg und jetzt in Edenkoben. Ich habe seither eine Reihe von Büchern mit Lyrik und Prosa veröffentlicht, bin in die USA, nach Griechenland und Frankreich gereist, nun unter den Bedingungen des kapitalistischen Buchmarkts, die oft schwieriger zu bewältigen sind als die halb illegalen, oder pseudo-legalen, in der ehemaligen DDR . Aber sie sind ehrlicher, und darauf kommt es an. Nun lebe ich mit meiner Lebensgefährtin Natascha Wodin zusammen, die, als Tochter ehemaliger russischer Asylanten, eine Außenseiterin in der deutschen Literatur ist... oft genug glaube ich, daß auch mir eine solche Rolle angemessen wäre. Von ganz unten her haben es ihre großartigen Bücher vermocht, die Poesie in der deutschen Literatur weiterzutragen, in eine Zukunft, in eine Ungewißheit: dies ist mir Unruhe und Beruhigung zugleich. Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Zuwahl meiner Person zum ordentlichen Mitglied.