Guntram Vesper

Writer
Born 28/5/1941
Deceased 22/10/2020
Member since 1985

Sechs Gedichte. Biografieversuch

Dreieinhalb Wochen vor dem Einbruch der Wehrmacht in die Sowjetunion bin ich in der Kleinstadt Frohburg südlich von Leipzig zur Welt gekommen.

Frohburg

Auf dem Weg in die Schule
durch Thälmannstraße
Schlossergasse, Hintergraben
dem fernen Dröhnen aller
Aufmärsche und Umzüge nach
sah ich die Stadt wie
mich selber
halb ja und halb
nein.

Beim Einschlafen viele Jahre
das Zucken der Beine
und wenn ich aufwachte, ein
Stechen im Ohr.

Mein Vater war Arzt, nach fünfundvierzig versorgte er neunzehn Dörfer, zwei Marktflecken, einen halben Kreis.

Der Vater als Landarzt

Er fuhr in die toten Nächte
der Nachkriegswinter hinein, die Wege
auf die Dörfer waren
unter Schneewehen verschwunden.

Blieb das Auto stecken, nahm er die Schaufel
und grub sich zum nächsten Bauern durch.

Jahrzehnte später fand ich
den vermißten Fahrer
seinen ausgeschlachteten Wagen wieder, auf den
Fotos von gestern

die eine zitternde Hand mir hinhielt
als Erklärung
für ein ganzes Leben.

Die Bilder des Mangels, der Not, mit denen ich aufwuchs, in einer Zeit des Aufbruchs und der Verwirrung. Das Reich war erledigt, das finstere Gestern noch nicht.

Die Spur

Aus ihrer Niedertracht waren schnell
spannende oder spaßige
Geschichten geworden
staunen sollte man, fragen
durfte man nicht.

Wie sie den jüdischen Drogisten
unten am Markt
aufs Kreuz gelegt hatten
beim Verkauf des schönen
stattlichen Hauses.

Als wir die Sachen
aus unserem schlechten Laden zur
Drogerie brachten
auf einem geborgten Fuhrwerk
war unter dem Gerümpel ein Faß mit
Honig umgefallen
und tropfte eine klebrige Spur
auf das Pflaster, von allen Seiten
kamen die Hunde und

leckten die Straße
hinter uns
sauber, wir
lachten und lachten.

Auch das Heute und das Morgen sahen wie Krüppel aus.

Auf beiden Seiten der Donau

Die Postenflüge der Krähen
über den kahlen Bäumen des Kirchplatzes
im November sechsundfünfzig kann ich
nicht vergessen

das ungarische Krächzen.

Und jede Haustür, die
ins Schloß fiel
klang wie ein Schuß.

Wir versuchten, einander
von den Augen zu lesen:
leben sie noch.

Nein, sie sind tot
schon nach einer Woche.

Neunzehnhundertsiebenundfünfzig, ein Jahr nach dem Aufstand in Ungarn, nahmen die Eltern mich mit in die Bundesrepublik. Notunterkunft, Heimschule, Empfindung von Kälte, erste Schreibversuche. Studium der Germanistik, Philosophie, des vorigen Jahrhunderts und der Medizin.

Aus dem Leben der Studenten

Erinnerung an die Berührung der Lippen
mit der alten müden Haut von Vater und Mutter
und mit der festeren
Haut meiner Schwester.

Jeden Morgen ging die Sonne
hinter einer
Kaserne auf

und wenn ich im Winter gegen Abend
aus der Anatomie kam
erschrak ich

über den Heißhunger, der mich
nach dem stundenlangen Umgang mit Menschenfleisch
in seiner grellroten Farbe
befiel.

In der dritten Imbißstube kehrte ich ein.

Beim Weitergehen roch ich
an meinen Händen
die Bratwurst und das
Leichenfett und ahnte, auf welche Weise man
zur gleichen Zeit
die menschliche Wärme lieben und von
Blutbädern
träumen kann.

Aus Liebe zu den Büchern, zur Literatur: das Schreibtischleben. Der genaue Blick, die genaue Arbeit als Aufforderung. Versuche, die eigene Geschichte und die der anderen, des Landes zu verbinden und zu verdichten.

Landmeer

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.