Michail Schischkin

Writer
Born 18/1/1961
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Meine Damen und Herren

Die Ehre, hier zu sein und vor Ihnen sprechen zu dürfen, verdanke ich einem Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, das sich heute Abend hier in diesem Raum befindet und mir zuhört. Ich meine Max Frisch. Das bedarf einer Erklärung. Zurzeit, als er seinen „Wilhelm Tell für die Schule“ schrieb, war ich in der fünften Klasse einer Moskauer Schule. Bei uns wurden die Schüler in zwei Fremdsprachen-Gruppen eingeteilt. Alle wollten Englisch lernen und niemand Deutsch. Die Lehrer drohten: „Wenn du schlechte Noten hast, kommst du in die deutsche Gruppe!“ Ich hatte gute Noten, aber das Pech, dass meine Mutter unsere Schuldirektorin war. Sie sagte: „Mischa, ich weiß, du hast es verdient, in die englische Gruppe zu gehen, aber Du wirst trotzdem Deutsch lernen. Dann können mir die anderen Eltern nicht vorwerfen, ich hätte dich bevorzugt.“

Meine Einstellung änderte sich, als ich in der Abschlussklasse in russischer Übersetzung „Mein Name sei Gantenbein“ las. Ich war total überwältigt, denn bei uns war fast alles verboten, was für die Entwicklung der Literatur im 20. Jahrhundert wichtig war. Nicht einmal Nabokov oder Joyce wurden publiziert. Dank Max Frisch kamen die innovativen Errungenschaften der westlichen Prosa wie durch einen Trichter in mich hinein. Ich habe dann „Stiller“ im Original aufgetrieben und mit dem Wörterbuch gelesen. So begann meine Liebe zur deutschen Sprache, die bis heute anhält. Viel später übrigens wurde ich von Max Frisch enttäuscht, aber das hatte nichts mit der Sprache zu tun.

Nun bin ich auch Mitglied der Deutschen Akademie. Ich möchte mich bei Ihnen für diese Wahl herzlichst bedanken und gestehen, dass ich mehr als überrascht war. Meine Prosa schreibe ich auf Russisch.

Bei uns in der Schule hing über der Tafel ein Plakat mit den berühmten Worten von Iwan Turgenjew: „Oh, du große, mächtige, wahrheitsgetreue und freie russische Sprache!“ Unsere Lehrer haben uns so viel belogen, dass ich auch an diesen Worten des Klassikers zweifelte. Und nicht umsonst. Etwas werde ich nie vergessen, ich war vielleicht 16 Jahre alt und wollte meine erste Liebeserklärung machen. Ich ging auf das Mädchen zu, machte den Mund auf und war auf einmal gelähmt. Ich hatte plötzlich realisiert: Es gibt keine Worte mehr, die Sprache ist zu Ende, wie die zerquetschte Tube Zahnpaste. Meine erste Liebeserklärung scheiterte, weil ich keine Worte finden konnte, um die Gefühle auszudrücken, von denen ich erfüllt war.

Alle Wörter sind längst abgedroschen und leer und bedeuten nichts. Sie sind tot. Das, was ich fühle, kann man mit Worten nicht ausdrücken. Nur mit diesen Gedanken beginnt man eigentlich, Schriftsteller zu sein. Die Sprache an sich ist weder groß noch mächtig, im Gegenteil, sie ist bettelarm und elend. Ich glaube, das betrifft jede Sprache auf der Welt, auch die Deutsche. Nur der Schriftsteller hat die Möglichkeit und das Privileg, die ihm gegebene Sprache zu ergreifen und diese dann groß, mächtig, wahrheitsgetreu und frei zu machen. Die Kunst der Prosa besteht in diesem Privileg, das Unbelebte lebendig zu machen.

Die Auferstehung des Wortfleisches. Aber wie kann man dem leblosen Wortstaub den Atem einhauchen?

Für mich gibt es nur eine Möglichkeit, dieses Wunder des buchstäblichen Auferstehens zu vollziehen. Man muss nicht korrekt schreiben. Die Kunst des Schreibens besteht in der Abweichung von der Norm, in jener Grauzone, wo die Grammatik, Stilistik und Rechtschreibung als vogelfrei erklärt werden. Die Prosa fängt da an, wo die Sprachregeln aufhören.

Meine Prosa schreibe ich nur in meiner Muttersprache. Nur auf Russisch kann ich die Grauzone der Normabweichung zu meinem Lebensraum machen. Ich nehme jede Phrase in den Mund, zerkaue sie tüchtig, zerlege sie auf der Zunge, und wenn der Satz den Beigeschmack des Lehrbuchs „Richtig sprechen und schreiben“ hat, dann spucke ich ihn aus. Die echte Prosa kann mit den korrekten Phrasen aus dem Lehrbuch nichts anfangen. Richtige Wörter, die ihren Geist aufgegeben haben, bedeuten sonst was, aber nicht das, was man sagen will, und rufen Ekel hervor wie eine fremde vergammelte Zahnbürste. Deshalb werde ich auch nie einen Roman in einer Fremdsprache schreiben. In einer fremden Sprache muss man richtig schreiben.

In meinem Roman „Venushaar“ gibt es eine Legende von einem zu lebenslanger Einzelhaft Verurteilten. Jahrelang kratzt er mit dem Löffelgriff ein Boot in die Zellenwand. Eines Tages bringt man ihm wie gewöhnlich Wasser und Brot, doch die Zelle ist leer und die Wand sauber. Er war ins gekritzelte Boot gestiegen und fortgefahren.

Der Roman ist ein Boot. Man muss die Worte so lebendig machen, dass das Boot echt wird, dass man es besteigen und aus diesem Einzelhaft-Leben fortfahren kann dorthin, wo man uns alle liebt und erwartet.