Claude Vigée

Writer
Born 3/1/1921
Deceased 2/10/2020
Member since 1996

Ich wurde während der frühen zwanziger Jahre in die elsässische Mundart eingeweiht. In der kleinen Industriestadt Bischwiller, bei Hagenau im Unterelsaß, war dieses Elsäßerditsch in meiner Kindheit noch fast die einzige Umgangssprache. Außerhalb der französischen Schule sprach man damals in der ganzen Umgebung »wie de Schnàwwel gewàchse isch«. Das war für uns Kinder eine wunderbare Erfahrung der Freiheit und sprachlichen Spontaneität. Die literarische deutsche Hochsprache entdeckte ich erst später, als ich das »Collège classique« meiner Heimatstadt besuchte. Seitdem hat die deutsche Sprache und Literatur – mit der ebenfalls auf der Schulbank gelernten französischen – mein inneres Wesen geformt und genährt. Aber die geliebte Mundart wurde dabei nicht vergessen.

Diese Treue versuchte ich auch im Weltkrieg zu bewahren, als nach dem Zusammenbruch Frankreichs die Ausweisung der elsässischen Juden aus ihrer jahrhundertealten Heimat und die mörderischen Verfolgungen der Shoah meinen täglichen Kontakt mit der Sprache endgültig unterbrachen. Trotz dieses tiefen Risses in meinem jungen Leben erhielten sich Elsäßerditsch und Hochdeutsch in meinem Bewußtsein wie eine schwache Nachtlampe im Dunkeln. Von Kindheit auf tönt immer noch der Klang der alemannischen Silben in meinem geistigen Ohr, ihr Urlicht ist meinem Herzen nahe, und so erlebe ich manchmal das Wunder der Selbsterinnerung.

Mànischmool glawwi, ’s hängt mr noch ebbs ém ohr
vun denne gemurmelde werder
...

Als Dichter drückte ich mich erst in späteren Jahren voll und ganz in der »Bischwiller« Mundart aus: Schwàrzi sengessle flàckere ém wénd erschien zweisprachig in Paris 1984; Wénderôwefîr wurde 1988-89 in Paris und Straßburg veröffentlicht. Ich schrieb einige Essays auf französisch über deutsche Dichter, übersetzte Gedichte von Goethe, Rilke, Ivan Goll. So glühte trotz allem die schlichte Flamme der elsäßischen Zweisprachigkeit in mir weiter.

Sogar während meines langen Aufenthalts in der Neuen Welt, den ich eher als ein geistiges Exil empfand, ergab ich mich dem Zauber der alemannischen Wortmusik. Meiner Frau habe ich damals in Boston mein Elsäßerditsch beigebracht, damit ich mit ihr in meiner vertrauten Mundart etwas »bàbble un schnàbble« konnte ... Gewiß, das Leben in der Fremde wirkte in mir wie ein endloses Zerrissensein. Aber unter der stummen Nostalgie verbarg sich die Hoffnung auf eine unvorstellbare, zeitüberspringende Zukunft: »Jenseits des Eises«, trotz Zerstörung und drohender Sprachlosigkeit:

Du Schneewelt der Kindheit,
Darfst du noch schweigend singen?

Aus jener verlorenen, begrabenen Kindersprache wuchs vielleicht doch ein unsinniges, unmögliches Heil:

ein Tag ein Wort des Gesanges
der steinernen Zukunft
abgerungen
...

Durch die Tragödie unserer Zeit hindurch reift im Schoß des Leides die hohe Sorge, jene Glut des Anfangs lebendig zu bewahren, und heute – im Alter – trage ich mehr denn je diese Sorge in mir: Es geht um das Werden der Sprachen und der poetischen Schöpfungskraft in einer kleinen Provinz, die ihre bedrohte Seele mit Unbehagen sucht, eingeklemmt zwischen einer Welt, die nicht sterben kann, und einer geahnten kommenden Wirklichkeit, die noch nicht geboren ist.

Das heutige Elsaß ist nicht nur der Ort einer verschwindenden alemannischen Mundart, ein enger Landstreifen, der zwischen der romanischen und germanischen Sprachwelt so halb vergessen liegt. Es ist auch der Ort Europas, wo zwei fremde Riesen, die sich seit dem Zusammenbruch des Reichs Karls des Großen immer feindlich gegenüberstanden, jetzt endlich wieder näher kommen, um ein gemeinsames Abenteuer zu wagen, ja sogar bereit sind, ein gleiches Schicksal zu tragen.

Heute handelt es sich um den Auftrag, das Alte, Eigene mit dem Universalen in einer aufwachsenden geeinigten Geisteswelt Europas zusammenzufügen. Für einen Schriftsteller geht es darum, eine Poesie, eine Prosa zu gestalten, die das pulsierende Wesen unserer innigsten Erfahrung verwirklichen können. Nur im Brunnen der eigenen, intimsten Seele, mit den beschränkten aber ehrlichen Ausdrucksmitteln des erlebten Augenblicks, kann man hoffen, diese Schätze zu entdecken und an den Tag zu bringen: so wie man eine Tiefwasserquelle erforscht, die in den eisigen Sandschichten der modernen Wüste verborgen liegt.

Dem Targum, der frühen aramäischen Übertragung der Bibel gemäß, wurde Adam im zweiten Bericht über seine Erschaffung als »ein Lebendiger, der spricht« bezeichnet. Um tatsächlich im Kern des Lebens zu reifen, muß der Mensch aus der Tiefe seines einmaligen Wesens sprechen. Nur so kann der Funken des Odems gerettet werden, der unter den Trümmern der namenlosen Sinnlosigkeit unserer Umwelt erstickt. Sobald wir gegen die Auszehrung der eigenen Kindheitssprache kämpfen, finden wir gleich wieder Zugang zu unserer verschütteten Lebensquelle: es handelt sich da um Leben und Tod der eigenen Seele. Vielleicht gelangen wir auch auf diese Weise zum Gehör mancher entfernter Mitmenschen, die den Klang einer inneren Stimme erkennen, von der ein Licht ausgeht, das still in uns allen keimt und auf Antwort wartet. Dieses heimliche Harren, die Suche nach freier Luft, nach neuem Licht sei unser künftig Zauberwort.

Ich danke Ihnen.