Publicist and Journalist
Born 30/9/1911
Deceased 5/10/1991
Member since 1976
»Von sich selbst reden ist im Grunde self-defeating, weil man sich selber eben doch so gerne wichtig nimmt. Da wird dann das Pathos, das zu jedem Ethos gehört, allzuleicht pathetisch«. – Dies, meine Damen und Herren, las ich kürzlich wieder in einem Brief von Hannah Arendt, deren Gedenken das neueste Heft der von mir betreuten Zeitschrift Merkur gewidmet ist. Ich will versuchen, wenigstens ein paar Minuten lang mit einigem Abstand (und durchaus im Bewußtsein der Niederlage) damit fertig zu werden. In Stich-Worten also, verstehen Sie das bitte wortwörtlich: In mir wählten Sie einen Berliner zu. Das Geburtshaus in der Friedenauer Fregestraße, wo heute Hans Magnus Enzensberger lebt,* und, wie ich vor Jahren von ihm erfuhr, früher einmal Rosa Luxemburg. Da war ich freilich schon nebenan, in der Wielandstraße, seit 1912 das Domizil meiner ersten dreißig Jahre, allerdings ohne viel Lektüre des Dichters und ohne irgendeinen Gedanken, daß ich es einmal zu einer Zeitschrift gleichen Namens und ähnlichen Alters bringen würde wie seinen Teutschen Merkur. – Es gibt übrigens noch eine Wielandstraße, in Charlottenburg, was wäre nicht doppelt in dieser doppelgesichtigen Stadt, schon damals eine Ellipse mit zwei Polen am Kudamm und am Alex, ohne einen festen Zellkern also und ohne eigentliche banlieue, mit nichts im Rücken und unter den Füßen als Sand und Asphalt, dafür mit Luftwurzeln sozusagen, der Teilung zugeordnet und vielleicht darum durch sie auch heute nicht umzubringen. Keiner hat das genauer beschrieben als Uwe Johnson, auch er lebte eine Zeitlang nebenan, in der Sponholzstraße, die drei genannten Straßen laufen parallel aufs Friedenauer Rathaus zu und münden in die Niedstraße, wo jetzt Günter Grass Zuhause ist.*
Gebe ich nun an, wie eben so ein Berliner »angibt«, um sich vor jemandem zu beweisen? Herkunft aus einem quartier germain der Literatur? Nichts wäre in meinem Fall pathetischer und falsch obendrein. Sogar in den berühmten Zwanziger Jahren, Berlins intellektueller Hoch-Zeit, gab es nicht einen aus ihrer Welt in diesem Friedenau, das ziemlich weit unten rangierte auf der Skala eines jener Berliner Äste, die ich eben mit Luftwurzeln verglich. Südwestwärts ging’s vom Arbeiterzentrum am Kreuzberg über das Schöneberger Milieu des kleinen Angestellten hinauf ins Reich der Bildung und des Besitzes, sich steigernd von Steglitz, Lichterfelde, Zehlendorf bis Schlachtensee, Nikolassee, Wannsee – eine soziologische Leiter, wie sie im Buche steht. – Und Friedenau genau dazwischen: angehendes kleines bis mittleres Bürgertum – ist es vielleicht das, was heute unsere Literaten so dorthin zieht, frage ich mich manchmal. Mein Vater jedenfalls paßte genau dorthin: ein Oberlehrer, zu dem er sich emporexaminiert hatte als Sohn eines Schrankenwärters, der seinerseits einem Bauernhof entlaufen war, in der Neumark, wo Deutsche und Polen dörflich nebeneinander saßen und zuweilen auch miteinander aßen, in der Regel Pellkartoffeln mit Leinöl. Wie stolz doch mein Vater auf seine Frau war, weil sie aus großem Hause kam! Westpreußischer Großgrundbesitz, der Vater Abgeordneter im Danziger Landtag, wo er leider gegen die kleinsten Bodenrechtsansprüche der Polen wetterte, bis diese ihm 1909 Höfe und Fabrik anzündeten; da unterrichtete die Tochter aber schon an dem Berliner Gymnasium meines Vaters, auch sie eine Entlaufene.
Was ich mit dieser kleinen Geo-Biographie sagen will? Daß ich ein Berliner mit Haut und Haaren bin, stolz auf diese Stadt wie meine Eltern, kein »zerbrochenes Haus« von Horst Krüger, dafür aber ein verlorenes: im Überkreuz zweier Erblinien verlorene Erde und Heimat nur im Dazwischensein dieser Stadt, in der nach einem klugen Wort von Carl Schmitt immerfort Türen auf- und zugehen. Womit ich bei der Grundempfindung meines Seins und auch meines Tuns bin. Es ist die Sehnsucht oder, unpathetischer, die Sucht nach dem Anderen, dem Komplementären, ja dem Gegensätzlichen – und der Vermittlung zwischen beidem. Auch dies eine Form des Entlaufens? Wer will, kann das durchaus auch an der Zeitschrift studieren, die ich herausgebe: an ihrer Dialektik, dem Hin und Her, dem Vor und Zurück, immer zwischen den Disziplinen wie den Ideologien. Titel und Charakter des Merkur hatten sich anscheinend gewählt.
Um bei meiner Geo-Biographie zu bleiben: Zwei Stationen waren es, die dem Berliner sozusagen kontrapunktisch zu der Polarisation verhalfen, die ich brauche. Zunächst Paris, die Stadt als Organon, die Vernunft der Sinne, Welt auch als Umwelt – 1933/34 veröffentlichte ich dort auf Vermittlung von Otto Grautoff, Thomas Manns Jugendfreund, in der Zeitschrift der Deutsch-Französischen Gesellschaft, der Revue d’Allemagne, meine ersten Essays auf französisch, denke übrigens seitdem in dieser Sprache, wenn ich in der eigenen mit einem Problem nicht zu Rande komme. Und später dann, seit 1952, Berlins Gegenstadt im Irrationalen, München also, genauer: der Erdgeist dieser Stadt bis hin zum Schwarmgeist, der hier ja nicht aufhört, von links bis rechts die deutschen Temperaturen zu erhöhen. Daß ein bekannter bayerischer Politiker einem ebenso bekannten aus dem Norden Schwarmgeisterei vorwarf, gehörte für mich zu den paradoxalen Höhepunkten unseres jüngsten, von soviel Paradoxie heimgesuchten Wahlkampfes. Nicht minder paradox freilich, daß ich mich wohlfühle in dieser Stadt mit einer Zeitschrift, die immerhin ihr Programm vor 30 Jahren mit einem Artikel von Lessing »Wider die Schwarmgeister« eröffnet hat.
Zum Schluß sei, allein schon um des genius loci willen, eine Zwischenstation erwähnt. Nämlich Darmstadt mit der »Schule der Weisheit« des Grafen Hermann Keyserling. Zu ihm pilgerte ich, 1935 unfreiwillig aus Paris nach Deutschland zurückkehrend, eine Zeitlang wie zu einem Lehrer. Der Reisetagebuchphilosoph, der Groß-Ton des Balten, das östliche Spekulieren mit »Sinn« und »Sinndeutung«, aber stets im blitzenden Gespräch mit den Europäern von damals, mit Gide und Valéry und Ortega und Carl J. Burckhardt und C. G. Jung und Leo Baeck und Heinrich Zimmer – das war das west-östliche Gelände, auf dem ich eigentlich alle Kontrastelemente meines Wesens und Denkens zum ersten Mal in Vorbildern gespiegelt fand. Wenig später heiratete ich eine Deutsch-Russin, die in Frankreich aufgewachsen war.
Und noch etwas lernte ich damals, an diesem Ort: daß zum Geist vielleicht Weisheit, jedenfalls aber Mut gehört. »Sie war zu kühn, um weise zu sein«, schreibt Dolf Sternberger im letzten Merkur von Hannah Arendt. Man könnte das so auch von Hermann Keyserling sagen, dem heute, in einer systemtheoretisch so eingezäunten Zeit, zu Unrecht Vergessenen. Als ich ihn zum ersten Mal besuchte, hatte er gerade auf eine Einladung von Goebbels, zwecks Präsidentschaft in einer möglichen Deutschen Gesellschaft für Philosophie nach Berlin zu kommen, geantwortet: »Treffen zwecklos wegen Größenunterschiedes stop messe 1,94«.
Erlauben Sie, das in einer kühnen Metapher auf die Akademie zu übertragen. Ich gratuliere Ihrem Mut, jemanden zum Mitglied zu wählen, der zwar 30000 Seiten einer Zeitschrift, aber nur an die dreihundert eigenen Schrifttums in Ihre Bibliothek zu stellen hat.