Terézia Mora

Writer, Screenwriter and Translator
Born 5/2/1971
Member since 2015

Georg-Büchner-Preis
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Durchs Nadelöhr gehen. Vorstellung bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Wenn man in den letzten Tagen der DDR mit dem Zug aus dem Westen (der DDR) in den Süden (der DDR) fahren wollte, also zum Beispiel von Magdeburg­-Sudenburg nach Jena­-Lobeda, dann musste man in Halle umsteigen. Wollte man in Halle umsteigen, musste man erst an Köthen vorbei. Es war möglich, an Köthen vorbei zu kommen, wäre es nicht möglich gewesen, wäre ich heute nicht aus Berlin hierhergekommen, sondern hätte die letzten sechsundzwanzig Jahre hier auf Sie gewartet. Es war möglich, das sagte auch der Fahrplan. Laut diesem fuhr der Zug aus Magdeburg zwanzig Minuten vor dem Zeitpunkt in Halle ein, zu dem ein anderer Zug Richtung Jena weiterfuhr. Allerdings passierte in den sechs Monaten, in denen ich diese Strecke fuhr, jedes Mal Folgendes: Der Zug fuhr in Köthen ein und verweilte dann dort (hier), manchmal zwanzig Minuten, manchmal dreißig, weil es in der Wirklichkeit (mindestens) ein freies Gleis weniger in Halle gab, als man zu diesem Zeitpunkt gebraucht hätte. Manchmal standen wir auch nur neunzehn oder achtzehn Minuten, wohinter ich damals (als Ergebnis von Erfahrung und Konditionierung) ein sadistisches Spiel vermutete: Na, du hast doch nicht etwa noch Hoffnung? Und wenn ja, wie groß ist sie? Ist sie so groß, dass du denkst, sechzig oder hundertzwanzig Sekunden könnten für dich reichen, um durch die Lücke zu schlüpfen?
Antwort: Ja, das dachte ich, wie denn auch nicht, ich war erst neunzehn, ein Teenager also. Studentin der Germanistik. Meine Nahrung bestand aus Haferflocken, Quark, Himbeersirup und Wasser. Man braucht dafür nur eine Schüssel. Ich stellte sie auf meine linke Seite, obwohl ich Rechtshänderin bin, aber die rechte Hand brauchte ich für den Stift. Ich spielte damals das Kreuzchen-­Spiel. Das Kreuzchen­-Spiel ging so: Nimm einen literarischen oder literaturwissenschaftlichen (weil das dein Fach ist) Text, und beerdige jedes hohle Wort darin, indem du ein kleines Kreuz darüber malst. Wie man spielt, wenn man neunzehn ist. In Frage stellen (d. h. in diesem Alter meist: verneinen), auseinandernehmen, abwiegen, aussortieren, schauen, was übrig bleibt. Selten überhaupt etwas. Die eigenen Texte (mit starken Georg ­Büchner-­, Klaus Mann-­ und Attila­ József-­Bezügen) zusammenstreichen auf die zwei kurzen Sätze, die darin etwas taugen (und, in Klammern: die von dir und nicht von einem der anderen sind). Sehen, dass zwei heimatlose Sätze, die übrig bleiben, nicht überleben können. Selbst ein blindes Huhn findet mal einen Satz, was du aber willst, sind ganze, voll endete Texte, die du stehenlassen kannst, ohne das Gefühl zu haben, zu lügen, zu verschleiern, anstatt sichtbar zu machen. Du willst etwas, das aufbaut und erhält, etwas Nichtzerstörerisches, etwas, das es möglich wäre nicht abzulehnen, etwas, das anders ist als das, worin du bis jetzt gelebt hast, etwas anderes als diese grau scheppernden Diktaturen, etwas, in dem du existieren kannst, in dem du überhaupt ins Leben kommen kannst. Dein Leben fängt ja, wie du vielfach zu hören bekommst, gerade an, und wie wäre also der Text dieses Lebens, wie wäre es möglich, dass du für dich sprechen kannst?
Vom in Köthen vereitelten Umsteigen bis zu dem ersten Text, den ich stehenlassen konnte, vergingen dann sieben Jahre, wie in einem Märchen, aber dann wurde, wie einst gehofft, tatsächlich: alles gut.
Mein Name ist Terézia Mora – ja, erst ab diesem Zeitpunkt. Mit sechsundzwanzig Jahren schrieb ich meine erste vollständige Erzählung.
Darauf einen Erzählband.
Darauf einen Roman.
Dann noch einen, das war der erste Teil einer Trilogie, mittlerweile ist der zweite fertig und erschienen, den dritten Teil fange ich gerade an.
Dazwischen noch einen Band Erzählungen, weil das Großromaneschreiben einen Menschen auslaugen kann. Physisch, emotional, mental. Und überhaupt: »Wenn etwas zu gut läuft, hör auf damit«, wie der weise Ernst Jandl sagte. Auch wenn es so ist, dass zwischen den Büchern alles wieder in seine Einzelteile zerfällt, als hättest du gar keine Sprache mehr, wenn du sie dann doch wiedergefunden hast, gelingen die langen Sätze in den langen Romanen doch leichter, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Du bist eben keine Anfängerin mehr und wirst es auch nicht mehr werden, aber das sollte dich nicht zu Unüberlegtheiten verleiten.
So weit der Zwischenstand am heutigen Tag. Danke, dass ich bei Ihnen sein darf.