Wulf Kirsten

Writer
Born 21/6/1934
Deceased 14/12/2022
Member since 1991

Je weiter ich mich von meiner Kindheit entferne, desto eindringlicher fragt die innere Stimme: Hast du das wirklich erlebt und gelebt, was du als deine Biographie ausgibst, oder ist das nicht nur zurechtgedrehtes Geflunker? Es fällt mir zunehmend schwerer, die mit Daten und Taten behangene Ichwelt vor mir selbst glaubhaft zu machen, weil gerade jene frühe Wirklichkeit, die mich geprägt hat, für alle Zeiten abgelebt und untergegangen ist. Was ich davon in meiner Sprache heraufzuholen suche, ist, an der Gegenwart gemessen, so unvorstellbar und fremd geworden, daß es leicht ins Märchenhafte gerückt werden kann. Je schärfer konturiert die Kindheitsbilder aufscheinen, um so stärker werden meine Zweifel an ihrer Echtheit, am Authentischen, auf das ich, den fiktionale Literatur längst nicht mehr in Lesewut versetzt, doch gerade aus bin. Aber sobald ich zu schreiben beginne, entzieht sich Erinnerung auf seltsame Weise. Es entsteht, wie kunstvoll oder kunstlos auch immer, eine durch Sprache geformte und damit ja doch wohl bereits verformte andere, mindestens zweite Wirklichkeit – eine Biographie aus einem anderen Material, das allein durch die Möglichkeiten und Zwänge zu Verkürzungen, Verschneidungen und Zuspitzungen, zu Ausschnitt-Techniken unweigerlich zu Fiktionen führt, die in der Sprache selbst als Mittel zum Zweck liegen. Kein einziger Satz scheint ohne die Hilfestellung fiktiver Elemente auszukommen. Und so wird auch dieser an eine Zeitvorgabe gebundene Versuch vermutlich zu einer mehr anekdotisch eingefärbten Selbstauflobung: Wie hat man’s denn so herrlich weit gebracht, vor Ihnen stehn zu dürfen. Nur wird das Großsprecherische sehr rasch gedämpft, wenn ich an die Wertschätzung von Gedichten generell denke.
In meinem Kopf tummelt sich kunterbunt eine Überfülle abgelegter, dreimal gewendeter Lebensfetzen, die im Sieb hängengeblieben sind. Aus diesem etwas krausen Erlebnisfundus, der sich jeder archivalischen Ordnung entzieht, der sich unablässig umschichtet und aufs Neue mischt, sind die meisten meiner Aufzeichnungen und Gedichte entstanden. Eine Erinnerung redet der andern hinein. Wie soll aus einem solchen Konglomerat das Authentische in Reinkultur abgezogen werden? Neuerdings kommt mir schon sehr unwirklich vor, was ich im Winter 1989/90 getan habe. Mir schwant, nie wieder werde ich mich zum Volksredner aufschwingen und Demonstrationen anzetteln. Freunde meinten, wir hätten damals, als wir in der Kirche Johann Gottfried Herders zusammenströmten und auf die Straße gingen, für einige wenige Minuten unserer Lebensgeschichte den Himmel über uns gesehen. Offiziell wurde so etwas bald unter »direkter Demokratie« kategorisiert, und die sie praktizierten, wurden als »selbsternannte Bürgerbewegte« apostrophiert, in herabsetzender Absicht versteht sich. Selbsternannte Massenpsychologen attestierten Wehleidigkeit. Das 1973 entstandene Gedicht »Klassenfoto. Anno Domini 1948« ließ ich enden: »Das Erlebnis des Lebens lag hinter uns«. Damals wollte ich mir nicht vorstellen, daß es nach Kriegserlebnissen, Kriegsende und Nachkriegswirren noch ein zweites derart existenzerschütterndes Grunderlebnis geben könnte. Ich weiß nicht, ob es mir künftig noch gelingen wird, die eigene Spanne, die in den vierzig Jahren dazwischen beschlossen ist, auch nur umrißhaft einzukreisen. Ich weiß nur, es kommt darauf an, und meine Absicht korreliert mit der Hoffnung Horst Denklers, weiter zu schreiben und sich nicht ins Boxhorn jagen zu lassen. Der Erzpoet sang Barbarossa zu, das war sein gutes Recht. Ich habe meine Sache auf nichts gestellt, jedenfalls auf keinen Kaiser. Das Wort Verniemandung, auf die in meinen Augen alles hinausläuft und gegen die ich anschreibe, bezog ich von Octavio Paz. Ich setze auf einen Worternst, der nicht mehr sonderlich hoch im Kurs steht. Die Übermittlung dieses Begriffs und der an sie gebundenen Schreibpraxis danke ich Hans Mayer, unter dessen Zuhörern im Hörsaal 40 ich drei Jahre saß, bis er Leipzig verließ.
Welcher Schriftsteller wird nicht gefragt, warum schreiben Sie, wie kamen Sie dazu? Ich weiß es nicht und will das auch hier nicht zu ergründen suchen. Ich weiß nur, es sprach sehr vieles dagegen. In meiner bücherarmen Dorfwelt, deren Tagesrhythmus von den Ochsengespannen eines Ritterguts bestimmt wurde, litt ich unter permanenter Lesenot. Dennoch hat der Zufall mir ein paar Erweckungsbücher zugespielt, auf die sich mein Poesieverständnis gründet. Die schmale Schullektüre erweiterten einige Lesebücher der Jahrhundertwende. Als Fünfzehnjähriger las ich die erste Literaturgeschichte, wenig später enthusiasmierte mich Albert Soergels Expressionismus-Darstellung. René Schwachhofers Anthologie Vom Schweigen befreit, und Wolfgang Weyrauchs Sammlung Die Pflugschar, beide 1947 erschienen, ließen in mir sehr früh eine Gegenwelt aufdämmern, auf die ich fortan zusteuerte. 1951 entdeckte ich Gedichte von Peter Huchel in der literarischen Monatsschrift Heute und Morgen, die mich bewundernd denken ließen: So also kann man auch dichten. Als ich 1957 nach Leipzig ging, um erst einmal das Abitur nachzuholen, erfuhr ich zu meinem großen Erstaunen von der Existenz einer Bücherei, in der angeblich alle Bücher deponiert sein sollten. Auch wenn es, wie sich bald herausstellte, ganz so viele nun doch nicht waren, war ich für sieben Jahre mit Lektüre versorgt. Kaum ein Lesewunsch wurde mir versagt. So wurde dem Autodidakten aus der Runkelprovinz, in der das Lesen von Büchern als ein Laster galt, die Deutsche Bücherei zur zweiten Universität. Während ich als Student von den sprachwissenschaftlichen Fächern wenig hielt, merkte ich später bei der literarischen Arbeit, daß ich gerade daraus den größten Gewinn gezogen hatte. In einem fakultativen Seminar zur Einführung in die Mundartenkunde entdeckte ich meine weithin abgedrängte, verschüttete Regionalsprache, die auch ich zuvor für verderbtes Deutsch gehalten hatte. Mit diesem Rüstzeug konnte ich zu den Quellen aufbrechen. Der Poetologie-Lehrer Georg Maurer vermittelte mir wie vielen anderen Lyrikern meiner Generation ein Denken in bestimmten poetischen Kategorien, zum Beispiel hielt er die Genauigkeit für eine solche Kategorie. Von da komme ich her, zu dieser Herkunft bekenne ich mich. Meine Tätigkeit als Verlagslektor in Weimar begann ich mit einer Liliencron-Auswahl. Mein Dank für die Aufnahme in Ihre Akademie und für die Einladung nach Prag schließt mit einer dieser Stadt geltenden Reverenz dieses ungestümen Impressionisten: »Ganz Praha ist ein Goldnetz von Gedichten«.