Józef Wittlin

Writer
Born 17/8/1896
Deceased 29/2/1976
Member since 1971

Sehr verehrter Herr Präsident, sehr verehrte Mitglieder der Akademie, meine Damen und Herren! Ich bedauere aufrichtig, daß ich meinen Dank für die außerordentliche Ehre, die Sie mir durch die Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erwiesen haben, nicht selber in Darmstadt sagen kann.
Es ist eine außergewöhnliche Ehre, daß Sie einen polnischen Schriftsteller in Ihre Gesellschaft aufgenommen haben, einen Autor, dessen Name in Polen heute öffentlich nicht erwähnt werden darf und dessen Bücher nur als Konterbande in seine Heimat kommen.
Ihre Wahl empfinde ich nicht nur als eine noble Geste, sondern auch als einen Akt der Solidarität deutscher Dichter mit einem exilierten polnischen Kollegen.
Ich empfinde es auch als eine Überwindung des Nationalismus in der Literatur, was mich, der mehr als ein halbes Jahrhundert gegen alle Arten von Nationalismus und Chauvinismus geschrieben und gehandelt hat, mit Freude erfüllt.
In mehr als drei Jahrzehnten fern meiner Heimat hatte ich genug Gelegenheit, über alle möglichen Aspekte des Exils nachzudenken.
Es gibt nicht nur das Exil aus politischen Gründen, der Begriff des Exils ist nicht nur an den Raum gebunden, eine lokale Verbannung, sondern es gibt auch eine Auswanderung aus der eigenen Epoche, ein Exil gegen die eigene Zeit.
Dieses Thema habe ich in anderen Zusammenhängen zu erörtern versucht. Es gab ja, und es gibt viele Dichter, die nie ihre Heimat verlassen haben und dennoch im Exil leben. Soll ich Beispiele anführen? Waren etwa Hölderlin oder Georg Trakl keine Exilierten, der eine in Deutschland, der andre in Österreich? Oder Baudelaire und Rimbaud in Frankreich? Edgar Allan Poe in Amerika? Vielleicht ist jede schöpferische Arbeit ein Exil? Eine Flucht aus der Banalität und dem Konformismus? Eine Zuflucht? Eine Rettung? Im Vorwort zu dem von ihm edierten Buch Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933-1949 bemerkt mein Freund Hermann Kesten: »Das Exil ist ein Urzustand«. Das ist eine sehr zutreffende Behauptung.
Um aber zum Thema der Sprache zu kommen, so glaube ich, daß man heute kein Dichter sein muß, um die sogenannte Muttersprache als eine fremde Sprache zu betrachten. Wir leben ja in einer Zeit, in der nicht nur Begriffe, sondern auch Vokabeln entwertet oder gar verfälscht werden.

Honneur des Hommes, Saint Langage,
Discours prophétique et paré
Belles chaînes en qui s’engage
Le dieu dans la chair egaré,–

schrieb Paul Valéry in seinem Poem La Pythie. Weit sind wir heute von der »heiligen Sprache« entfernt. Aber diese Worte Valérys gelten auch heute für die Dichter.
Geehrte Mitglieder der Deutschen Akademie, erlauben Sie mir, daß ich eine andere Akademie erwähne, die zwar nicht der Pflege einer Sprache und Dichtung dient, aber in der ich mehrmals über das Phänomen der Sprache nachdenken mußte. Ich spreche von jenem Saal in der »Galleria dell’ Accademia« in Florenz, wo die steinernen »Gefangenen« von Michelangelo stehen und an den Wänden die flämischen Gobelins hängen, welche die Erschaffung der Welt zeigen. Einer dieser Gobelins stellt unsern Urvater Adam dar, wie er auf Befehl des Schöpfers allen lebenden Kreaturen einen Namen gibt. An der Spitze des Zugs der Tiere schreitet stolz ein Einhorn, dann ein Paar sehr vergnügter Löwen, dann ein Elefant usw. Was mich beim Anblick dieses Bildes besonders fesselte, war die Sprache, in welcher Adam den Tieren ihren Namen gab. Ad usum qualis Delphini hatte Adam alle diese Geschöpfe, die da kriechen, laufen, fliegen oder schwimmen, benennen müssen?
Es muß wohl eine universelle Sprache gewesen sein, eine Sprache, in der aber Adam nicht einmal mit seiner Frau konversieren konnte, da Eva erst viel später erschaffen wurde. Er benannte also die Kreaturen ad usum seiner Nachfolger, vor allem für die künftigen Zoologen. Es muß für ihn eine schwere, noch vor der Vertreibung aus dem Paradiese »im Schweiße seines Angesichts« vollbrachte Arbeit gewesen sein. Im Buche Genesis finden wir kein Wort darüber, daß der Herr, bevor er dem Adam den Befehl gab, den Geschöpfen einen Namen zu geben, ihn in der Materie unterrichtet habe. Freilich sehen wir auf dem florentinischen Gobelin den Herrn im roten Gewande in den Lüften schweben und mit den Händen auf die vorbeimarschierenden Geschöpfe zeigen. Aber sein Mund ist geschlossen. Und so nehmen wir an, daß Gott dem Adam nichts souffliert hat.
Dann aber kam das große Malheur mit dem Turm von Babel, für die Literatur vielleicht kein allzu großes Malheur.
Denn hätte der zürnende Schöpfer die frevelhafte Menschheit auf eine andere Weise bestraft, so würde es heute keine unzähligen Nationalliteraturen geben, keine literarischen Agenten für Übersetzungen, und viele tüchtige Schriftsteller, die von Übersetzungen aus fremden Sprachen leben, könnten sich ganz ihren eigenen kreativen Werken widmen. Und die Philologen, Linguisten, Strukturalisten, Semantiker und Semioten würden zur Arbeit an einer einzigen Sprache gezwungen sein.
Was meine Beziehungen zur deutschen Sprache betrifft, so sind sie sehr alt. Die deutsche Sprache war meine Stiefmuttersprache. Es ist keine Metapher. Ich hatte nämlich eine deutsche Stiefmutter, die, bevor sie meinen Vater heiratete und ihre Karriere in Deutschland aufgab, eine Schauspielerin an mehreren deutschen Theatern war. Und so wurde ich in meiner frühesten Jugend, in der polnischen Stadt Lwów, auf deutsch: Lemberg, bevor ich noch die polnische Dichtung kennen lernte, mit Monologen aus Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans und Don Carlos gefüttert.
Ich darf wohl erwähnen, daß ich darum später ohne große Schwierigkeit deutsche Lyrik und Prosa ins Polnische übersetzen konnte. Schon als Gymnasiast korrespondierte ich mit Richard Dehmel und wurde von ihm autorisiert, seine bei S. Fischer publizierten Ausgewählten Gedichte ins Polnische zu übertragen. Ich übersetzte mehrere dieser Gedichte und eines sogar aus dem Manuskript, das mir Dehmel sandte. Dieses Gedicht »Tochter der Sonne« begann: »Noch war Polen nicht verloren«.
Später übersetzte ich Rilke, den heute bei der Jugend so beliebten Steppenwolf von Hermann Hesse, einige Romane meines großen unvergeßlichen Freundes Joseph Roth und andere deutsche Prosa, Dichtungen und Dramen. Dies wären ungefähr, sehr verehrte Damen und Herren, meine legitimen Beziehungen zur deutschen Sprache und Literatur.