Lukas Bärfuss

Writer
Born 30/12/1971
Member since 2015

Georg-Büchner-Preis
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Hochgeschätzte Akademie,
sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kollegen,
liebe Freunde,

ich heisse Lukas Bärfuss, aber während der längsten Zeit meiner Kindheit war dieser Name den meisten Menschen unbekannt. Durch Wirrnisse, wie sie nur eine Familie ermöglicht, durfte ich meinen richtigen Namen nicht tragen und wurde mit einem fiktiven ausgestattet.

Das war nicht einfach ein Spitzname, nicht bloss ein Ruf unter Freunden, selbst in den offiziellen Listen fungierte ich unter diesem Pseudonym. In meinen Zeugnissen steht dieser falsche Name, und so werde ich niemals beweisen können, dass ich je die Schule besuchte.

Nur wenn wir eine Grenze überquerten, was selten vorkam, erschien mein wirklicher Name, dieses Geheimnis auf der Identitätskarte, für einen Moment dem Zöllner offenbart und gleich wieder in die Dokumentenmappe versenkt, die ich zu Hause manchmal aus der Schranktiefe zog und in einem stillen Winkel für mich bestaunte.

Seither misstraue ich den Dokumenten und den Namen. In den Worten liegt ein Geheimnis, das ich nicht ergründen kann, ein Rätsel, dessen Lösung ich suche. Zuerst forschte ich in den Enzyklopädien, mit acht Jahren in einer aus italienischer Produktion, in fünfundzwanzig Bänden. Die Lemmata waren aufschlussreich, ebenso die Tatsache, dass ich das Wissen im Grunde einem Toten verdankte, jenem Mann, der mir die Bücher hinterlassen hatte.
Ich las mich durch die Bände, lernte viel, aber Antwort fand ich natürlich keine.

Später habe ich mich herumgetrieben und weiter gelesen, und da ich weder Vater noch Lehrmeister hatte, übertrug ich den Dichtern meine Erziehung. Jedes Buch wurde mir zum Lehrbuch, dessen Tauglichkeit sich im Leben beweisen musste.

Wolframs Parzival beschreibt im Wesentlichen meine Jugend, natürlich mit Ausnahme der Aventüre, in der er den Gral findet. Wie er versuchte ich, aus dem Wald meiner Kindheit zu finden, auch ich lernte bei jeder Gelegenheit das Falsche, auch ich fand nur Königreiche aus Dreck.

Schwejk, der brave Soldat, hat mir einmal aus dem Patsche geholfen. Ich lernte: Der Dienstweg ist eine Einbahnstrasse und jede Befehlskette bricht, wenn ein Glied die Order nicht zuerst als Bestätigung der Hierarchie, sondern nach ihrem wahren Sinngehalt versteht. Ich lernte und setzte um: nach zwölf Tagen entliess man mich aus der Armee. Auch in Schwejks Schuld stehe ich also.

Irgendwann hatte ich genug vom Suchen und verlegte mich aufs Finden. Ich wollte ein Schriftsteller sein, und weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie man diese Absicht in die Wirklichkeit umsetzt, suchte ich erneut den Rat der Dichter.

Ezra Pound trug mir auf: »Schreiben Sie jeden Tag ein Sonett!« Das wollte ich gerne tun, aber weil ich keine Ahnung hatte, was ein Sonett sein könnte, studierte ich Paul Verlaine, und weil mein Französisch mangelhaft war, lernte ich es, indem ich seine Poèmes Saturniens übersetzte, nur für mich.

Dabei erfuhr ich eine Menge, und es trug mich zu anderen Gedichten, zu jenen von Hilda Doolittle etwa, von Charles Olson, von Robert Creeley und Kenneth Patchen.

Eigene Gedichte habe ich selten geschrieben, niemals publiziert, aber ich weiss, dass ich ihnen alles verdanke, was ich über Sprache zu wissen glaube.

Später nutzte ich die Gunst der historischen Stunde und überschrieb mich dem Theater. Dort habe ich ein Handwerk gelernt, wie man Verträge aufsetzt und verhandelt, wie man Menschen entlöhnt für ihre Kunst.

Und ich habe gelernt, dass es eine Öffentlichkeit erst gibt, wenn man sich eine erschafft.

Und ich habe gelernt, dass es gefährlich wird, sobald sich mehr als zehn Menschen zum Kunstgenuss versammeln.

Von meiner Zeit denke ich nicht nur Gutes, aber ich habe begriffen, dass man in den Verhältnissen zu leben hat.

Von Parmenides weiss ich: Jede Offenbarung, der Wahrheit oder der Liebe, setzt eine Entführung voraus. Ob es eine Göttin sein muss, die einem auf rossgezogenen Wagen in die Einweihung führt, weiss ich nicht, sicher ist nur: die Rückkehr bleibt ausgeschlossen.

Meine Erfahrung bestätigt Epiktet: Die wesentlichen Dinge, Freiheit, Freundschaft und das Begehren, werden wie die Unwesentlichen – Eitelkeit, Habsucht oder Neid – mit dem eigenen Leben bezahlt. Und da die Zeit jeden kleinbekommt, hat man sich zu entscheiden.

Ein Gedanke ohne Angst verändert die Welt, und es gibt viele, die sich genau davor fürchten.

Innerhalb der menschlichen gibt es nur eine Gemeinschaft, zu der ich gehören will: zu jener der Lesenden. Dass Sie meine Mitgliedschaft durch Aufnahme in diese Akademie verbürgen, erfüllt mich mit Freude, Dankbarkeit und Stolz.