Roger Bauer

Germanist
Born 4/12/1918
Deceased 18/6/2005
Member since 1978

In indiskreter Zeit gehört einige Tapferkeit dazu, sich zu offenbaren. Von Ironie wurde mir abgeraten: dagegen spräche sowohl der Anlaß wie der Inhalt dieser Rede. So bin ich in einiger Verlegenheit.
Ich wurde geboren in einem sehr braven, lieb provinziellen Elternhaus. Die Basis meiner Erziehung war eine wortlose Grundanständigkeit. Meine Mutter war eine jener gescheiten und fleißigen Modellhausfrauen auf dem Lande, mein Vater betrieb ein Geschäft mit bescheidenem Erfolg. Das Dorf meiner Mutter lag im fränkischen, das meines Vaters – einst zu Hanau-Lichtenberg gehörend – im alemannischen Unterelsaß. Alle Kinderseligkeit ist dort nun zubetoniert.
Im Ersten Weltkrieg diente mein Vater in einem sächsischen Regiment; im Zweiten Weltkrieg kam – März 1944 – sein letzter Brief aus Burgund, wo die Meinigen 1940 Zuflucht gefunden hatten. Es war die Ankündigung des endgültigen Exils! Ich habe danach von meinen Eltern und meinen beiden kleinen Schwestern nie wieder etwas gehört. Ich bin unfähig zu hassen, aber ich weiß, daß ganze Völker manchmal wahnsinnig werden.
Die Familie war dreisprachig. Das Elsässische fiel uns am leichtesten. In der Schule und mit Respektspersonen sprach man französisch. Meine Großmutter las mir die Märchen der Brüder Grimm und aus den erbaulichen Geschichten des Domkapitulars Christoph von Schmid vor. Den »Erlkönig« aufsagen lernte ich von meiner Mutter. Die Bibel las ich auf deutsch: vom hebräischen Text auf der Seite nebenan konnte ich so wenigstens etwas verstehen!
Im deutschen – zweiten! – Schullesebuch dominierte J. P. Hebel; daneben gab es die Klassiker in langweiliger Auswahl. Aber was waren die Theateraufführungen im katholischen Gesellenverein – vulgo Bengeleverein – für literarische Orgien! In Wilhelm Tell – ohne Frauen! – war unser Klempnermeister der Geßler: der Illusion geschah dadurch kein Abbruch. Dann im »collège« in Oberenheim: viel Schiller, etwas weniger Goethe, E. T. A. Hoffmann, Eichendorff, Heine und – in alemannischem Gemeinschaftsgeist – Conrad Ferdinand Meyer.
Selbstverständlich war – wie etwas später auf der Straßburger Universität – unsere Umgangssprache das Französische. Das heißt, auch jeder literarische Disput wurde französisch geführt, aber es war ein angenehmer Snobismus, seine Freunde mit Kenntnissen aus dem Deutschen verblüffen zu können. Und die sehr plötzliche Entdeckung der französischen Poesie von Baudelaire bis zu den Surrealisten fand ihre Entsprechung in der beglückenden Lektüre von Novalis und Hölderlin bis zu George und Hofmannsthal. Es geschah uns zweisprachigen Studenten da viel Gutes.
Das Verhältnis zu Deutschland war natürlich zwiespältig. Wir hörten die Geschichten der Emigranten, der Krieg drohte – drohte uns ganz persönlich im Grenzland, und dennoch konnte ich nie anders, als dieses Verhängnis wie einen maßlosen Unglücksfall zu betrachten: Anfangs des Krieges publizierte ich als blutjunger Marineinfanterist meinen ersten Aufsatz über das Gedicht »Franken« aus dem Siebenten Ring! Natürlich war Frankreich mein Vaterland (dieses Wort hatte einen anderen Stellenwert als heute), aber zu Hause war ich auch in der deutschen Geisteswelt.
Ende 1944 konnte ich nach der wilden Zeit in den Savoyischen Wäldern mein Studium an der Ecole Normale Supérieure wieder aufnehmen. Dieser Neubeginn fiel mir nicht zu schwer dank dem Wohlwollen und der Hilfe meiner Lehrer: des »großen Herren« Edmond Vermeil, soeben aus London zurückgekehrt, und des Emigranten aus Weinheim an der Bergstraße, Arnold Hirsch, der im Maquis untergetaucht war und sich nun mit großer Liebe der jungen Germanisten der Rue d’Ulm annahm. Er verwies mich zuerst auf die österreichische Literatur, immer sehr vernachlässigt in unseren nach norddeutschem Schema verfaßten Lehrbüchern.
1946 holte mich Eugene Susini nach Wien, und ich lernte eine Welt kennen, die dem selbstbewußten jungen »Agrégé de l’Université« seine Unvollkommenheiten deutlich machte. Ich entdeckte ein hinreißend gescheites Theater – »Wer ist das, Nestroy?« – und merkte rasch, daß das Spielerische die Basis des österreichischen Lebensstiles war – und wohl nicht mehr ist.
Nach zwei großartigen Wiener Jahren kam ich an die Universität Münster, von dort nach Köln (zu Fritz Schalk) und nach Bonn, später nach Saarbrücken. So war mir noch vergönnt, Reste des alten imposanten deutschen Universitätsstils vorzufinden. Aber wie lange noch wird die Erinnerung bleiben an große Gelehrte, die zugleich große Herren waren?
Seit dreißig Jahren lehre ich an deutschen Universitäten – mit einer Unterbrechung von vier Jahren daheim in Straßburg – und lebe nun sehr gern in dem wunderbaren München, wo Süddeutsches zu Hause ist, und Nördliches streng aber gerecht beurteilt wird.