Elisabeth Borchers

Writer
Born 27/2/1926
Deceased 25/9/2013
Member since 1989

Herr Präsident, meine Herren und Damen

Kürzlich las ich – als Motto eines Gedichtbandes aus den vierziger Jahren – von Andreas Gryphius den Satz: Ich habe mein Leben in heißer Angst verbraucht.

Da ich, von angstvollen Augenblicken abgesehen, oder auch Zeiten, mein Leben nicht in Angst, schon gar nicht in heißer Angst verlebt habe – wobei man sich fragen muß, armer Gryphius, wie denn das auszuhalten sei, in einer ein Leben lang anhaltenden Angst zu leben, man stelle sich, sagte ich mir, eine Angst produzierende Maschine vor, die sich dreht und dreht und statt gelegentlichen Nachlassens, ja pausenartigen Stillstands nur immer noch schneller wird, bis die Räder, so sehe ich die aus Rädern und Rädchen, aus Klappen, Hebeln und Isolatoren bestehende virtuose Angstmaschine, bis die Räder vor Hitze zu singen beginnen, so hell und scharf wie nur der höchste Gipfel eines Glücksmoments zu singen imstande ist – wußte ich, was mich an dem Bekenntnis des Andreas Gryphius so sehr beeindruckte, daß ich nicht weiterlas – Gryphius hatte sein Leben nicht verbracht, er hatte es verbraucht. Stetig. Wie der Verbrauch eines ständig in Anspruch genommenen, nicht zu streckenden, nicht wieder aufzufüllenden Vorrats. Nicht ein biographisch begründbares gemächliches Verbringen von Zeiten, die Kindheit hier, die Jugend dort. Nicht wie: Die heißen Stunden des Tages verbrachte das Spitzmaulnashorn im Schatten der Bäume. Nein, von Anfang an fand ein Vernichtungsprozeß statt, die Vernichtung einer vermeintlich im Überfluß vorhandenen, kaum weniger werdenden Quantität, eine zunächst behutsame Beraubung, dann ein heftiges, gierig werdendes Weggehamstertwerden, bis jemand, am hellichten Tag oder des Nachts, die dämonische Maschine anwarf, mit, wie man sagt, eisernem Griff.

Zunächst war es – eine angenehm summierende Metapher – die Ungunst der Verhältnisse. Es kamen hinzu physische Leiden. Und dies alles mündete ihm in die Überzeugung, daß es dem Leben recht eigentlich an Sinn mangele. Was stutzig macht, schließlich sättigt der Mangel den Dichter, und Gryphius war einer.

Ich habe mein Leben in heißer Angst verbracht. Das wäre, als flanierte einer in Lebens- oder Todesangst den Boulevard entlang. Da bedarf es denn doch eines verdichtenden Moments, um die Unversöhnlichkeit deutlich werden zu lassen; zumindest bedarf es eines zusätzlichen Buchstabens, der den Schrecken endgültig macht. Angesichts dieses tragischen Vorgangs auf den Verschleiß zu, der sich in heißer Angst vollzieht. Und ganz benommen, ja obsessioniert von dieser Gryphiusschen Konsequenz verbraucht statt verbracht, dachte ich: an einem solchen Beispiel sei das Merkmal Sprache zu demonstrieren, sollte man gefragt werden, woran denn die Literatur, mit der man sich ein halbes Leben lang befaßt habe, erkennbar sei. Und mir fiel der nächtliche Garten von vor dreißig Jahren ein – der nicht etwa – wie ein junger Dichter einem anderen jungen Dichter feierlich versicherte – von Rosen umrandet, sondern wie nun der zweite den ersten behutsam korrigierte – von Rosen umbrandet war. Was Stille zur Folge hatte, denn jeder wollte die Brandung hören. Und ich dachte, an einem solchen Beispiel verbraucht statt verbracht kann unsereiner nicht genug bekommen, und er wird sich zeitlebens beschämt fühlen – als ein Kollege mein Zimmer betrat, und ich ihn, den Finger unter der Gryphiuszeile, bat zu lesen. Eine Kopfbewegung, halb ja, halb nein, ratlos insgesamt. Dieser Mensch, denke ich, ist noch zu jung, er weiß es noch nicht, ahnt noch nicht einmal; und in einem Anflug von Alleingelassensein werfe ich aufs neue den Blick auf diesen Satz, der sich mir stichflammenartig mitgeteilt hatte, und ich lese erstaunt: Ich habe mein Leben in heißer Angst verbracht.

Die biographischen Daten lassen sich in dreieinhalb Zeilen zusammenfassen. Nach dem Krieg suchte ich noch einmal den Geburtsort am Niederrhein auf, stellte mich wieder vor das nicht zerstörte Gymnasium, über dessen Eingangstor, in Stein gehauen, wie eh und je zu lesen war: Eifriges Ringen führt zum Gelingen – um fluchtartig dorthin zurückzukehren, wo der über die Maßen schön geschnitzte Bücherschrank stand, dem ich in jungen Jahren nicht Heinrich Heine entnommen hatte, sondern Henri Heine. Dort, an diesem Heine-Ort, hatte ich den unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Sprache und Sprache erfahren, erst dort und mit vierzehn. Und ich wurde mir zum erstenmal einer Dankbarkeit für die Person des Großvaters bewußt, von der es in einem der Alben ein Foto gibt, darunter die ebenso schlichte wie wahrheitsgemäße Legende: Großvater und der letzte deutsche Kaiser. Was mich als Kind jedoch weit mehr beeindruckt hatte, war die Tatsache, daß es im alten Hause eine Honigkammer gab – die Bienen eine Liebhaberei. Man denke: Honig wohin das Auge reicht, in Töpfen, Krügen und Kannen, irden, erdhaft, dickwandig, von hellem und von dunklem Braun, zugedeckt, in einer Stille, in der nicht einmal mehr das Summen der Bienen zu hören ist. Alles verzehrt, verbraucht. Ich war kürzlich dort. Nur dies, ein Rest von Gedächtnis. Ich danke Ihnen.