educationalist
Born 23/9/1925
Member since 1982
Wenn eine Biographie gebraucht wird, legt mir meine Sekretärin ein halbes Dutzend alter Muster vor. Ich wähle unter ihnen eines aus – nach geforderter Länge und Art – und bringe es auf den neuesten Stand; ich trage zum Beispiel nach: »Am 14.10.1982 in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen«. Jede der Darstellungen ist wohlüberlegt. Nur wenn der Zweck ein gänzlich anderer ist, ließe sich mit Recht auch etwas anderes berichten.
Der heutige Zweck ist in meinem Leben neu. Die Erfahrungen, Taten und Ereignisse, an denen sich erkennen läßt, was für ein Pädagoge ich bin, oder wodurch angeregt und berechtigt, ein Buch über Platon zu schreiben, oder inwiefern würdig, mit dem akademischen Amt X, der politischen Aufgabe Y betraut zu werden, taugen fast alle nicht, wenn ich mich den hier Versammelten als neues Mitglied vorstelle. In den meisten Fällen beantworten wir die Frage, wer und was einer sei, mit einer Auskunft darüber, woher er komme und was er tue. Was einer will und denkt und erst recht, was er über sich selbst denkt, möge das objektive Bild, das wir uns von ihm meinen machen zu müssen, – bitte – nicht stören. Hat, was hier interessiert – mein Umgang mit Sprache und Dichtung –, einen objektiven Ursprung?
Ich habe dies geprüft und antworte: Nein. Gut, da ist das großbürgerliche Elternhaus mit dem dialektfreien Hochdeutsch, mit der Bibliothek, avec Les Mots; da sind die vielen Aufenthalte im Ausland (so daß ich als Kind jederzeit zweisprachig war); da ist die Nazi-Zeit, in der ich am Französischen Gymnasium gelernt habe, Sprache zugleich als Tarnkappe und als Waffe zu gebrauchen. Aber mein Verhältnis zur Aufgabe der Akademie würde sich nicht einmal mir selber verläßlich erschließen, geschweige denn anderen, wenn ich es durch sachliche Daten und historische Umstände beschriebe.
Ich muß es also anders machen. Ich lasse Sie für einen Augenblick miterleben, wie ich mit Sprache umgehe: Es klingt paradox: Am wenigsten verfüge ich über meine Sprache, wenn ich frei rede. Ich spreche lebhaft oder gebrochen, selten ruhig. Habe ich den Wortlaut meiner Äußerung nicht vorbereitet, sage ich nicht, was ich sagen will, sondern was mir zu sagen gelingt. In solchen Augenblicken scheint die Sprache das Denken zu übernehmen.
Wem fiele hier nicht Kleist ein! Wie Sie sich erinnern, heißt es bei ihm, die »allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« komme »aus einem in der Not hingesetzten Anfang«. Ich gehöre wohl zu den Menschen, die diesen Anfang mutwillig, auch ohne Not, hinsetzen, um dadurch produktiv zu werden. Gelingt diese List, ist die Wirkung doppelt: Man sagt etwas Überraschendes, etwas, was die anderen kaum gedacht haben können, und man erweckt den Eindruck, dies sei das Ergebnis einer besonders zügigen Denkart. Je älter man wird, um so weniger freilich ist man auf diese »beine-« oder »flügel-machende« Not angewiesen, um so widerwilliger setzt man sich ihr aus. Man verfügt über genügend Sachkenntnis und sprachlich wohleingespielte Denkmuster – und hört vielleicht darum auf, schöpferisch zu sein. Aber noch immer ist jedes »öffentliche« Gespräch für mich ein Abenteuer. Interviews vor einem laufenden Aufnahmegerät versetzen mich unfehlbar in Panik. Ihr entgehe ich entweder durch die Flucht nach vorn, oder ich beginne zu stammeln.
Beim Schreiben herrschen andere Gesetze – meine geschriebene Sprache unterscheidet sich gründlich von der gesprochenen.
Philologen erklären das Werk eines Autors, indem sie Verwandtschaften und Deszendenzen feststellen. Es könnte einer – wissend, daß ich meine Doktorarbeit über Thukydides geschrieben habe – die Eigenart und Schwierigkeit meines Stils von diesem herleiten: die Perioden, die Parenthesen, die Gedrungenheit, die rhetorischen Figuren, die Reihungen, die kunstvollen Symmetrien. In der Tat haben mich während meines altsprachlichen Studiums die flores rhetorici stark angezogen, aber doch wohl, weil sie mir erklärten, was ich aus anderen Gründen selber schon tat: die äußeren Ordnungen zur Herstellung von inneren benutzen, die wildwüchsigen Gedanken durch ästhetische Muster bändigen, den Fluß der Wahrnehmung zu faßbarer und einprägsamer Erkenntnis, zur Pointe bringen.
Darum also finden sich in meinen Texten, wie bei den alten Griechen, polarisierende Begriffspaare, Antithesen und Alternativen: weil ich dialektische Gegensätze zur Klärung von Sachverhalten brauche. Dies zeigen allein die Titel meiner Arbeiten: Spielraum und Ernstfall, Systemzwang und Selbstbestimmung, Erfahrung statt Belehrung, Erkennen durch Handeln oder, indem ich eine einzige Sache zum Dialog mit sich selbst zwinge, in der figura etymologica: Das Verstehen des Verstehens und Konflikt um den Konflikt oder in einer figura pseudoetymologica (annominatio): Magier oder Magister?, Die Schule zwischen Bewahrung und Bewährung, Das häßliche Hessen-Forum.
Nicht weniger verführerisch sind die Triaden, womöglich solche, in denen die Lautung mitwirkt: »Vereinheitlichung, Verrechnung, Verrechtlichung«, »Öffentliche Meinung, öffentliche Erregung, öffentliche Neugier«. Die Sache schreibt’s nicht vor! Es geht um die Befriedigung, die die »begrenzte Fülle« der Dreiheit gewährt. Schon die bloße Reihung macht das Vielerlei übersichtlich. Durch Anapher und Spiegelstrich auch optisch vereinheitlicht, sind die Einzelposten nun summierbar, im doppelten Sinn überschlagbar.
Einem ganz anderen Motiv – oder mehreren – entspringen die vielen Parenthesen. Keine Seite Hentig-Prosa ohne mehrere Gedankenstriche! Die Parenthese verrät Unentschiedenheit. Sie zeigt mich in einem Widerstreit, den es nicht geben sollte: zwischen dem Bemühen um den besten und dem Bemühen um den verständlichsten Text. Eigentlich ergreife ich für die mir geglückte Formulierung Partei gegen die Bequemlichkeit des Lesers, und weil Autorenklugheit mir sagt, daß das falsch ist, halte ich diesem schnell ein Geländer hin. Zu meiner Brücke gehört dieses nicht. Ich opfere ungern die gedrungene, originelle, Aufmerksamkeit fordernde Wendung der auch möglichen ausgefalteten, geläufigen, gar repetierenden Lösung.
Mit solcher Eitelkeit verbindet sich bei mir eine an Geiz grenzende Ökonomie. Es fällt mir schwer, einen Wort gewordenen Gedanken wegzuwerfen: weil es diesen Gedanken nur in diesen Sätzen und Wörtern gibt.
Ich habe vorhin gesagt: Die Sprache scheine bei mir gelegentlich das Denken zu übernehmen. Das muß ich natürlich vor Beendigung dieser Rede nachdrücklich zurücknehmen. Richtiger, würdiger und hiermit zum Zitieren freigegeben sind die Sätze: Die Sprache ist – was sonst erwartet man bei einem Platoniker! – mein Erkenntnisinstrument. Und: Erst wenn ich beim Schreiben das Gedachte buchstäblich »vor mich« bringe, kann ich dafür einstehen. Das ist offenbar bei den einzelnen Menschen verschieden. Hannah Arendt wurde in einem Fernseh-Interview gefragt, ob ihr das Schreiben Mühe mache. Ich erinnere mich, wie die sonst so strenge alte Dame halb überrascht, halb nachsichtig lächelte: »Aber nein«, sagte sie, »wenn ich schreibe, schreibe ich nur ab, was ich vorher gedacht habe«. Ich brauche, um einen Gedanken zu fassen, Papier. Ich muß zu allem, was ich schreibe, eine Disposition machen.
Meine Texte sind einer sehr individuellen Schwäche abgerungen; noch haften die Zeichen des Kampfes an ihnen; es ist nie ganz sicher, ob eine anstößige Redefigur so gemeint ist oder mir nur nicht besser gelingen wollte. An meiner Sprache kann man eines nicht ablesen: das, was ich in ihr vermeide und was ich in den Texten anderer kritisiere. Hieran erst zeigte sich meine Tauglichkeit für diese Akademie. Die ebenso strenge wie humane Regel, daß die Selbstvorstellung nur fünf Minuten dauern solle, versagt mir, dies – wie kurz auch immer – zu zeigen. Es hat etwas Gutes: So erscheine ich Ihnen nicht schon gleich am ersten Tag als der Schulmeister, der ich in sprachlichen Dingen bin.
Aber daß ich ein Genießer von Wortspielen, ein Sammler von Schüttelreimen, Limericks und Nonsens-Versen, ein für Sprachwitz äußerst anfälliger Zeitgenosse bin, – dieses Geständnis mag eine kleine Übertretung des Zeitmaßes wert sein. Vitiis certissime cognoscimur.
Ich bin bis in die letzte Falte meines Gemüts erheitert, wenn ich lese, daß Erich Kästner A Streetcar Named Desire mit »Ein Triebwagen« übersetzt hat; ich gratuliere den Amerikanern zu dem Hintersinn, den ihre Sprache schon vor aller Bildungsreform offenbar mit den Wörtern Quality und Equality angelegt hat; ich habe wochenlang immer wieder vor mich hinlachen müssen, wenn mir der Satz einfiel, den ich in einer Jugendzeitschrift gelesen habe: »Eine Kuh macht muh, Kühe machen Mühe«.
Ohne Kühe findet diese Rede – einer entsprechend kalauernden Logik zufolge – ein müheloses Ende.
Ich danke für die mir von Ihnen angetane Ehre.