W. G. Sebald

Writer
Born 18/5/1944
Deceased 14/12/2001
Member since 1996

Geboren 1944 im Allgäu, hat es einige Zeit gebraucht, bis ich etwas wahrnahm und begriff von der Zerstörung, die am Anfang meines Lebens stand. Ab und zu hörte ich in der Kindheit die Erwachsenen vom Umsturz reden, aber was der Umsturz war, wußte ich nicht. Die erste Ahnung von unserer furchtbaren Vergangenheit kam mir, glaube ich, als eines Nachts, Ende der vierziger Jahre, die Sägemühle im Plätt abgebrannt ist und alles aus den Häusern an den Ortsrand hinauslief und in die Flammengarbe starrte, die hoch hinaufreichte in die schwarze Nacht. Später, in der Schule, sind die Feldzüge Alexanders des Großen und Napoleons wichtiger gewesen als das, was damals gerade nur fünfzehn Jahre zurücklag. Auch an der Universität erfuhr ich so gut wie nichts über die jüngste deutsche Geschichte. Die Germanistik ist ja in jenen Jahren eine mit beinahe vorsätzlicher Blindheit geschlagene Wissenschaft gewesen und ritt, wie Hebel gesagt haben würde, auf einem fahlen Pferd. Ein ganzes Wintersemester lang rührten wir in einem Proseminar im Goldenen Topf, ohne daß auch nur ein einziges mal die Rede auf das Verhältnis gekommen wäre, in dem diese sonderbare Erzählung stand zu den Realien der ihr unmittelbar voraufgegangenen Zeit, zu den Leichenfeldern vor Dresden und zu dem Hunger und den Seuchen, die damals herrschten in der Elbestadt. Erst als ich 1965 in die Schweiz und ein Jahr darauf nach England ging, begannen sich, aus der Entfernung heraus, in meinem Kopf Gedanken zu bilden über mein Vaterland, und diese Gedanken haben sich, in den mehr als dreißig Jahren, die ich nun schon auswärts lebe, in zunehmendem Maße kompliziert. Die ganze Republik hat für mich etwas eigenartig Irreales, so ungefähr wie ein nicht enden wollendes déjà vu. In England nur gastweise zuhause, schwanke ich auch hier zwischen Gefühlen der Vertrautheit und der Dislokation. Einmal, in einem Traum, wurde ich schon, wie Hebel, gleichfalls in einem Traum, in Paris, als Landesverräter und Hochstapler entlarvt. Nicht zuletzt aufgrund solcher Befürchtungen ist mir die Aufnahme in die Akademie willkommen als eine unverhoffte Form der Legitimation.