László F. Földényi

Translator, Comparatist and Art theorist
Born 19/4/1952
Member since 2009

Friedrich-Gundolf-Preis

Ich komme aus Ungarn, wo es durchaus selbstverständlich ist, ein Ungar zu sein. Was keineswegs heißen soll, dass das auch leicht ist. Es genügt, auf die ungarische Nationalhymne zu verweisen, die wir nun seit fast zwei Jahrhunderten bei jeder sich bietenden Gelegenheit singen oder aufsagen. Genießen wir in der einen Zeile noch den Segen Gottes, so sehen wir uns in der nächsten schon als Verfluchte des Schicksals. Segen und Fluch. Abgrund und Gipfel. Auserwählte Gottes und Gebrandmarkte Gottes. Das sind wir Ungarn. Jedenfalls halten wir uns dafür. Für Privilegierte, für Ausnahmemenschen. Kein Volk der Weltgeschichte habe so viele Schläge erlitten wie wir. Es sei aber auch keines so großartig wie wir.
Sollte das eine Folge unserer geographischen Lage sein? Dessen, was der ungarische Dichter Endre Ady als Ungarns Rolle als Fährenland zwischen Ost und West bezeichnet hat? Oder sollten die Ungarn irgendein anthropologisches besonderes Merkmal haben? Ich weiß es nicht. Ich mahne Sie jedenfalls zur Vorsicht, meine Damen und Herren: vor Ihnen steht ein Ungar – denn mit meiner Person haben Sie erneut einen Ungarn in Ihre Reihen aufgenommen. Und wie alle Ungarn neige auch ich zur Übertreibung.
Schon die Umstände meiner Geburt erachte ich als außergewöhnlich. Ich wurde in Debrecen geboren, in einer Provinzstadt im Osten Ungarns, deren Literaturfeindlichkeit längst ein Gemeinplatz der ungarischen Literatur ist: Petőfi etwa meinte, in Debrecen kaufe man Bücher allein aus dem Grund, um den Speck in die herausgerissenen Blätter einzuwickeln. Auch ich begutachte meine Bücher unter diesem Aspekt, wenn sie aus der Druckerei kommen. Ich wurde nach dem Krieg, im Jahre 1952 geboren. Ich war also ein Kind der Friedenszeit. Und doch wurde meine Geburt von gleich zwei Kriegen überschattet. Zum einen vom Kalten Krieg, zu dessen finstersten Jahren 1952 gehörte. Meine Eltern hatten ihr Lehramtsstudium in jenem Jahr absolviert. Mein Vater, der sich geweigert hatte, in die Partei einzutreten, musste bei der Diplomverleihung seine fachliche Eignung vor einer Kommission nachweisen. Man schrieb das Jahr 1952. Man hätte ihn zu den existentialistischen Denkern jener Zeit, den neuesten Filmschöpfungen des italienischen Neorealismus, den aktuellen Geistesströmungen in Europa befragen können. Statt dessen stellte man ihm eine viel schwierigere Frage: Würde er im Falle eines Angriffs von Titos jugoslawischen Truppen auf Ungarn den Parteisekretär vor ihnen verstecken? Mein Vater bejahte die Frage ohne zu zögern. Doch schon im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass es auf diese Frage keine gute Antwort geben konnte. Sie sind also der Meinung, dass sich ein ungarischer Parteisekretär vor dem Feind verstecken würde, wollte der Fragesteller wissen. Und damit war das Schicksal meiner Eltern besiegelt: sie wurden mit ihrem Säugling in ein winziges Dorf verbannt. Dort verbrachte ich meine ersten Jahre – und der einzige Trost meiner Eltern bestand wohl darin, dass das nächste größere Dorf jahrhundertelang persönlicher Besitz meiner Familie mütterlicherseits gewesen ist.
Und der andere Krieg? Während meine Eltern den Kalten Krieg ausfochten, verstrickten sich meine beiden Großmütter in einen Religionskrieg. Die eine war protestantisch – ja, schlimmer noch: kalvinistisch –, die andere katholisch – ja, schlimmer noch: griechisch-katholisch. Sie interessierten sich nicht für Stalin und Tito, nicht für den Personenkult, nicht für die Schauprozesse und die Hingerichteten, sondern für das Seelenheil ihres Enkels. Und als Folge ihrer schrecklichen Streitigkeiten sprachen sie zehn Jahre lang kein Wort miteinander, sondern schickten einander Botschaften, die ich überbringen musste. Und das warf einen genauso dunklen Schatten auf meine Kindheit wie der Kalte Krieg.
Tito und Stalin, Kalvinismus und Katholizismus. Dieses Durcheinander empfand ich als Kind keineswegs als tragisch. Und doch kann ich behaupten: ich wuchs auf, ohne dass ich jemals irgendeine Art von Eindeutigkeit um mich herum erlebt hätte. Auch ich konnte mit Rilke sagen: »Denn was ich fortstelle, / hinein in die Welt, / fällt, / ist wie auf eine Welle / gestellt«. Als ich mit zwölf Jahren zum ersten Mal ins Ausland reiste – als Austauschschüler für drei Monate zu einer deutschen Familie in Dresden –, staunte ich, wie viel sauberer und transparenter die dortigen Zustände waren. Obwohl es sich um die DDR handelte, die auch nicht gerade für Unkompliziertheit und Transparenz bekannt war. Und doch registrierte ich neidvoll, dass ein »Ja« dort eher einem »Ja« ähnelte als bei uns zu Hause, und wenn man »Nein« sagte, dann meinte man es wirklich so.
Nach einigen Jahren gelangte ich von dem kleinen Dorf wieder nach Debrecen, von dort floh ich dann – der Worte Petőfis gedenkend – nach Budapest. Dort absolvierte ich mein Studium – der Anglistik. Ich fühlte mich angezogen vom englischen common sense, das ich so sehr vermisste. Mein Studium der Anglistik und später meine immer häufigeren Reisen nach Deutschland und die mal kürzeren, mal längeren Aufenthalte dort ermöglichten mir, auch von außen einen Blick auf die Unübersichtlichkeit zu werfen, die mich in Ungarn umgab. So entstand, als ich zweiunddreißig war, mein Buch Melancholie, das zu Hause einiges Aufsehen erregte und seitdem in mehreren Sprachen erschienen ist – zuerst auf Deutsch. Ich glaubte damals, über eine allgemeinmenschliche Erfahrung zu schreiben, so generell. Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist mir klar, dass ich das Buch nicht hätte schreiben können, wenn ich nicht in Ungarn gelebt hätte, in den letzten Jahren des Kalten Krieges. Wäre ich inmitten eines echten, großen Krieges aufgewachsen, hätte ich es sicher nicht geschrieben. Dazu hatte es des Kalten Krieges bedurft – und des Religionskrieges meiner Großmütter: wenn Menschen einander derartig bekämpfen, dass sie dabei lächeln und Friedlichkeit vortäuschen. »Es gibt eine spezifische ungarische Traurigkeit«, schrieb einmal Cioran, der als Rumäne die Ungarn innig kennen musste – er soll auch gesagt haben, dass er, wenn die Zeit des Sterbens gekommen ist, Gott auf Ungarisch verfluchen möchte – und fuhr dann fort: »überhaupt gibt es in Europa drei Formen von Trauer: die russische, die ungarische und die portugiesische.«
Ich weiß nicht, ob er recht hatte. Ich würde die Ungarn jedenfalls weniger als Melancholiker bezeichnen als vielmehr als Menschen, die zwischen Skylla und Charybdis des Selbstlobes und Selbstmitleids umherirren und dabei regelmäßig Schiffbruch erleiden. Vielleicht fühlte ich mich nach Melancholie auch deshalb zu Geistern hingezogen, die nicht so sehr auf friedlichen Wassern segelten, sondern zwischen den Extremen pendelten. Und so kam es, dass ich Bücher über Caspar David Friedrich und Goya, den Marquis de Sade und William Blake geschrieben habe. Und über Heinrich von Kleist, über den ich nicht nur ein umfangreiches Buch geschrieben habe (unter anderem für dieses Buch erhielt ich von Ihnen vor vier Jahren den Friedrich-Gundolf-Preis), sondern dessen Gesamtwerk ich auf Ungarisch auch herausgegeben habe – einschließlich der verschiedenen Fassungen seiner Werke sowie seines gesamten Briefwechsels, wodurch – gestatten Sie mir ein wenig Eigenlob – die vollständigste Kleistausgabe außerhalb des deutschen Sprachraums entstanden ist. Sie ist noch vollständiger als die japanische und die französische, obwohl auch sie gründliche Arbeit geleistet haben.
Kleist und Caspar David Friedrich, Essays und Bücher über die deutsche Literatur und Geschichte und über Berlin, wo ich über zwei Jahre verbracht habe: auch das zeigt, dass mir die deutsche Kultur nicht gleichgültig ist. Ich habe als Ungar in Deutschland gelernt, was es heißt, ein Europäer zu sein. Und das gilt nicht nur für mich, sondern auch für viele meiner ungarischen Kollegen und Schriftstellergefährten. Woraus ich schließe, dass sich vielleicht auch die ungarische Kultur und Literatur in Deutschland einer gewissen Beliebtheit erfreuen. Sonst würden wir uns hier nicht so wohl fühlen. Als neues Mitglied der Akademie habe ich das Gefühl, dass die Bande, die mich mit der deutschen Kultur verbinden, noch stärker geworden sind, und dank Ihnen wird es für mich fast schon eine Heimkehr sein, wenn ich fortan herkomme.
Die dunklere Seite der Romantik, die Undurchschaubarkeit, die vielschichtigen, fast schon barocke Komplexität aufweisenden Beziehungsgeflechte: das ist auch heute noch etwas, das mich elektrisiert, ob in der Literatur oder in den bildenden Künsten. Dabei spielen meine Kindheit, die Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, mein Temperament gleichermaßen eine Rolle. Da ich nun vor Ihnen stehe, Ihnen dankend, dass Sie mich zum Mitglied der Akademie gewählt haben, und über mich selbst sprechen soll, beobachte ich mich auch ein wenig mit den Augen eines Außenstehenden: Und damit nehme ich das, was ich gleich zu Beginn meiner Rede gesagt habe und was Ihnen vielleicht schon im ersten Augenblick aufgefallen ist, zurück: Es ist doch nicht so selbstverständlich, ein Ungar zu sein.


Aus dem Ungarischen von Akos Doma