Friedrich Christian Delius

Writer
Born 13/2/1943
Deceased 30/5/2022
Member since 1997

Georg-Büchner-Preis
Homepage

Wenige Tage nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad nicht weit vom Vatikan in das warme Frühlingslicht von Rom geboren, die Mutter eine milde Mecklenburgerin, der Vater ein westfälischer Pfarrer, zwischen hessischen Wäldern und Fachwerkhäusern, Bücherregalen und Fußballplatz Lesen und Schreiben gelernt und zugleich stotternd und stumm geworden – wo fängt es an, das Ich, das mit gelähmter Zunge zur Sprache drängt und im Alter von zehn Jahren mit der Schreibmaschine des gefürchteten Vaters sich einen »Weltplan« tippt? Und als »Beruf« angibt: Dichter.

Dies Rätsel habe ich auch in der Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde nicht gelöst, und ich will es nicht lösen, denn es treibt mich voran. Wer schweigt und stottert, mag, im Idealfall, ein besonders glühender Liebhaber der Sprache sein. Widerspruch – erst gegen die Sprache der Väter und Götter, dann gegen die Sprachen der Floskeln, der Macht, der Ideologie. Sich am Schopf der eigenen Lyrik aus dem Sumpf ziehen – mit solchem Sublimationsgewinn läßt sich wuchern. Ich ging ins Zentrum der deutschen Widersprüche, anderthalb Jahre nach dem Mauerbau. Aber was wäre Berlin gewesen ohne den Weg durch die Mauer, ich brauchte Gesprächspartner in beiden Berlins. Doch bei allem bescheidenen Größenwahn hätten wir uns nie vorgestellt, 30 Jahre später in einer Akademie wieder zusammenzutreffen.

Der politische Schub von 1965, 1966, 1967, 1968 hat mich nicht gehindert, zehnmal mehr Jean Paul zu lesen als Karl Marx. Theorie war meine Sache nie, und der Höhepunkt meiner Studentenbewegung war eine Dissertation über Der Held und sein Wetter. Eine Maxime von Friedrich Schlegel begleitet mich seit 1965: »Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig«.

Sie sehen, im Grunde wäre ich gern ein Romantiker. Bin aber nun etikettiert als literarischer Chronist der Gegenwart, als politischer Autor gar, überdies geadelt von siegreichen Literatur-Prozessen bis hinauf zum Bundesgerichtshof. Ich staune immer wieder darüber: eine gewisse politische Wachheit scheint offenbar nicht mehr selbstverständlich zu unserm Berufsbild zu gehören. In Deutschland steckt schnell in der sogenannt politischen Ecke, wer die Auswirkungen historischer Ereignisse auf die Gemütslage und das Verhalten von Subjekten und Figuren nicht vergißt, ja sogar poetisch mitdenkt. Als wäre nicht jede Liebesgeschichte mit gesellschaftlichen Banden beschwert. Zur Abwechslung der Schubladen würde ich gern einmal als heimatloser Heimatdichter wahrgenommen werden: Köln, Bielefeld, Wiesbaden, Ribbeck, Wehrda, Rostock, Hiddensee, Berlin hätte ich zu bieten.

Wo sind denn nun Ihre Wurzeln? Wie links oder rechts sind Sie denn? Wo ist Ihr Standpunkt? Ich fühle mich, obwohl Westmensch, als Einheitsgewinner und Gegner der Jammer-Fraktion. Das neue Jahrhundert hat bereits im Jahr 1989 begonnen. Warum ich trotzdem immer noch kein Zyniker bin, habe ich auf 99 Seiten zu beantworten versucht. Der Meinungsmarkt schert mich weniger als die Fakten, die Fragen, die Suche – und der Humor, nachsichtig oder frech.

Wenn Sie mich z. B. bei Feierlichkeiten, gerade bei akademischen, verhalten oder gar lächeln sehen, dann denke ich vielleicht daran, daß wir zu 98,6 Prozent Schimpansen sind. 1,4 Prozent Mensch, und was für ein unendlicher Raum der Freiheit, der Sprache, der Möglichkeiten!

Sie sehen hier einen Mann, den Sie, nach Akademie-Maßstäben, für verhältnismäßig jung halten werden. Bitte, vergessen Sie nicht, daß Sie einen Veteranen vor sich haben. Einen aus der letzten Generation, die noch ohne Fernsehbilder erzogen worden ist. Aus der Generation, die es so gut hatte wie keine vor ihr und so gut wie keine nach ihr haben wird, und die dies Privileg verdammt schlecht genutzt hat, bis jetzt. Einen altmodischen Menschen, der die bewußtseinserweiternden Wirkungen von Sprache und Dichtung bei allen Zweifeln lieber überschätzt als unterschätzt.

Sehr lang ist der Weg aus den hessischen Wäldern nach Darmstadt. Länger als der Weg von Darmstadt oder Berlin nach Budapest. Ich freue mich, daß dieser Umweg es erlaubt, mich hier vor mindestens fünf hochgeschätzten ungarischen Autoren zu verneigen, zugegeben unhöflich kurz innerhalb der gesetzten Frist von 4 Minuten und 59 Sekunden, bevor ich mich bei allen andern Mitgliedern dafür bedanke, daß sie mich mit ihrer Zuwahl erfreut haben. Nicht nur mich, sondern auch den Zehnjährigen, der immer noch davon träumt, ein Dichter zu sein.