Paulo Astor Soethe

Germanist
Born 18/1/1968
Member since 2022

„Meine Mutter war ein Kind der brasilianischen Erde, und was sie mir von dieser Erde und ihren Menschen erzählte, war das Erste, was ich von fremder Welt überhaupt vernahm.“ Mit dem Wort von Thomas Mann aus dem Jahre 1943 erlaube ich mir, lieber Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie, meine Damen und Herren, meine Vorstellungsrede zu beginnen.

Das Zitat bezieht sich indirekt auf dreierlei Gründe, weshalb ich Rüdiger Görner, Günter Blamberger und Marisa Siguan für den Vorschlag meines Namens, der Versammlung der Akademie für die Zuwahl meiner Person in einer besonderen Form dankbar sein muss:

Erstens begann meine Mitgliedschaft kurz vor dem 200. Jubiläum der deutschen Immigration in Brasilien, das im Juli 2024 gefeiert wird. Daher erhielt die Zuwahl meiner Person als Germanist, Übersetzer und Kulturvermittler aus Brasilien einen symbolischen Stellenwert, den ich im eigenen Land stellvertretend mit germanistischen Kolleginnen und Kollegen teilen darf, sowie mit ca. 7 Millionen Brasilianern, die, wie ich, in ihrer Familiengeschichte deutschsprachige Vorfahren aufweisen.

Zweitens passierte die Aufnahme meiner Person, die sich in ihrer Forschungsarbeit zumeist den literarischen Beziehungen der Familie Mann zu Brasilien gewidmet hat, kurz vor dem 100. Jubiläum der Ersterscheinung von Thomas Manns Der Zauberberg.

Dieser Roman, dessen Übersetzung ins Portugiesische ich gründlich revidieren durfte, ist in der brasilianischen Neuausgabe von 2016 auf unserem Buchmarkt ein großer Erfolg: Es wurden über 45.000 Print-Exemplare verkauft, der 11. Nachdruck kam im März 2023 heraus, ein weiterer ist bereits geplant.

Ich setze mich deshalb dafür ein, dass im kommenden Jahr Vertreter der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung eingeladen werden, gemeinsam mit der Academia Brasileira de Letras in der Stadt Paraty, sogar in dem Haus, wo die Mutter von Heinrich und Thomas Mann die frühe Kindheit verbrachte, die beiden Jubiläen zu feiern.

Deutsch hat in vielen Regionen und Großstädten Brasiliens den Status einer vor Ort sehr wichtigen Sprache, sie ist in vieler Hinsicht als kulturelles Substrat in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Im Moment befasst mich intensiv die Digitalisierung und Präsentation der deutschsprachigen Presse in Brasilien, die von 1852 bis 1940 flächendeckend zirkulierte. Unter circa 810 Titeln von Zeitungen, Zeitschriften und Kalendern wurden bei uns über 1,4 Millionen Seiten veröffentlicht. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erreichten die deutschsprachigen brasilianischen Zeitungen eine Leserschaft von schätzungsweise 800000 Menschen: ein ganzes Areal der Forschung, das in vieler Hinsicht bis heute unbekannt bleibt. Deutsch als brasilianische Sprache, die wiederentdeckt und belebt werden sollte, soll im Jahre 2024 auf der kulturellen Tagesordnung im „Mutterland“ von Heinrich und Thomas Mann ganz oben stehen.

Drittens durfte ich daher voller Freude und Dankbarkeit die Akademie-Mitgliedschaft auch kurz vor dem Thomas Mann-Jahr 2025 antreten. Denn im Juli 2025, wenige Wochen nach der Feier von Thomas Manns 150. Geburtstag, versammeln sich Tausende von Deutschlehrenden aus der ganzen Welt in Lübeck auf der Internationalen Deutschlehrertagung (IDT). Diese Großveranstaltung findet unmittelbar im Anschluss an den nicht kleineren Grazer Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) statt, deren Vizepräsident zu sein ich zurzeit die Ehre habe.

Die zeitliche Koinzidenz zwischen den Welttagungen von im internationalen Raum tätigen Germanisten (IVG) und Lehrern (IDT) scheint dafür ein gutes Zeichen zu sein, dass sich die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache weltweit mit der Tätigkeit von Tausenden von Germanistinnen und Germanisten stärker verzahnt. Neben der wissenschaftlichen Forschung beachten die germanistischen Professuren an hunderten von Universitäten weltweit mit immer größerer Aufmerksamkeit und Expertise die so dringende Frage der Ausbildung von Deutschlehrerinnen und -lehrern. Deutsch als internationale Sprache erlebt in unterschiedlichen Regionen der Welt Hochkonjunktur, und ich hoffe, dass dies auch in der Öffentlichkeit der deutschsprachigen Länder wahr- und ernstgenommen wird.

So viel zu Fragen nach „des Lebens ernstem Führen“, jetzt wird es brasilianisch: persönlich und emotional. „Frohnatur“ darf auch sein, und „die Lust zu fabulieren“. Ich möchte nun kurz meinen drei bisherigen Lebensgefährtinnen herzlich danken: Wie die drei Parzen haben die drei Göttinnen verschiedene Phasen meines Lebens mit Kraft, Energie, Lebens- und Schreiblust erfüllt. Und eine vierte Göttin begleitet mich seit 26 Jahren, meine Tochter Ana Clara, die hier anwesend ist und somit ihrem Papa eine große Freude bereitet. Liebe Ana Clara, vielen Dank, dass es Dich gibt und du heute dabei bist!

Meine Worte schließe ich im Gedenken meiner ersten Deutschlehrerin ab: meiner Radolfzeller Großmutter Maria Theresia Kessler, die 1921 als 15-jähriges Mädchen mit ihrer Familie nach Brasilien ausgewandert ist. Was sie mir vom magischen Bodensee erzählte, auf dem sie im Winter laufen konnte, nachdem sie in dessen Wassern im Sommer hatte schwimmen können, war „das Erste, was ich von fremder Welt überhaupt vernahm“. Ich danke Dir, liebe Omama Resi, dass Du kurz nach der Ankunft in Brasilien stark und mutig, forte e corajosa, Deine Truhe kilometerlang durch den Urwald hingeschleppt hast. So hast Du mir einen schönen Weg zur deutschen Sprache beigebracht, wie sie der Argentinier Jorge Luis Borges beschrieben hat: Eine selbst erwählte und gesuchte Sprache „mit ihren Wald- und Nachtgeräuschen“.

Vielen Dank!