Ulrike Draesner

Writer and Translator
Born 20/1/1962
Member since 2021

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Jeden zweiten Samstagnachmittag verbrachten meine Schwester, meine Cousine und ich ohne Aufsicht im Wald. Wir hörten das Spreideln der Nadeln, blickten in der Trollblumen Gesicht. Kamen wir zurück, schauten wir Raumschiff Enterprise. Die Erwachsenen tranken nebenan. Beam me up, Scottie. Raum grenzte an Raum. Der Onkel, Fischhändler, kam an den Kindertisch, an dem wir erstarrte Wasserwesen schluckten, und erzählte von Menschen, die an Fischgräten erstickt waren.
Das war normal. Ein Spaß war das.
Wir lebten im Nachkrieg.
Wollte man die Katzen streicheln, fauchten sie. Das Haus stand auf einem 20 Meter hohen Hügel, wir machten uns steif und stumm, rollten ihn als gutgepolsterte Spindeln hinab, der katholischen Oma vor die Füße: „Sappradi“.
Das klingt nach Musik.
Ist aber keine.
Ich war weiblich, protestantisch, Linkshänderin. Durch mich sprach der Teufel. Sapperlot.
Wir lebten in einer brutalisierten Gesellschaft. Unsere Erwachsenen hatten Lücken. Wenn sie lachten, krochen ihnen Hysterie und Wut zugleich ins Gesicht. Eine brutalisierte Gesellschaft hat Sehnsucht nach mehr Brutalität. Sie stellt sich nichts vor. Schon gar nicht sich selbst. Sie stellt die Welt fest.

Der zweite Raum: München Schwabing, Hochparterre, Halbdämmer. Oma und Opa aus Schlesien, flüchtlingsfremd in Bayern auch nach 20, nach 30 Jahren. Alle ihre Freunde: Geflüchtete wie sie. Trifft man sich, verlässt meine bayrische Mutter den Raum. Stundenlang trinkt sie eine Tasse Kaffee bei Tchibo, nimmt heimlich Zuckertütchen für den Kaffee zuhause mit. Zuhause wird jeder Pfennig umgedreht. Für mich ist das Augenschein, das Leb-so-hin. Geborgtes Leben, fremd, versteckt.
Die Geflüchteten im Wohnzimmer der Großeltern flüstern: Springkinkerle. Ich bin das einzige Schnackala im Raum. Über dem Flüstern gehe ich vergessen. Die Stimmen werden lauter. Sie und ich – gehen Vergessen. Auf dem Weg zu den Großeltern saßen die Männer mit den Eisenhänden in der Straßenbahn. Manche schlagen mit ihrem Stock nach meinen Beinen, wenn ich Hosen trage. Mädchen tragen Rock. Mädchen halten den Mund. Ich halte den Mund. Wir leben im ...? Geschichten, die ich kenne, werden fortgesetzt mit Wahrheiten, die nichts für Kinder sind.
Auch die Erwachsenen halten diese Wahrheiten nicht aus.
Sie sitzen ihren Körpern an.
Sie brechen die Stimmen. Ich sitze unter dem schlesischen Tisch. Füße und Beine erzählen Geschichten zu den Wortgeschichten hinzu.
Ich lerne zu hören, was Menschen sagen, ohne es zu sagen.
Sprache aus dem Körper, ohne Mund.

Raum drei: das Vaterhaus. Vater: Fachhochschule, Ingenieur. Mutter: 12 Wochen Ausbildung als Sekretärin. Das frisch gebaute Haus hatte Wände, Möbel hatte es nicht. Ich war fünf Jahre alt. Das Spielzimmer bestand aus einem blauen Teppich und Leere. Mutter und Schwester machten Mittagsschlaf. Ich durfte wach bleiben, wenn man mich nicht hörte. Ich flüstere in die Stille über dem Blau.
Tiere gelten als Dinge, Kinder als formungsbedürftig. Das Recht der Eltern, sie körperlich zu züchtigen, wird erst 1998 abgeschafft. Ich sitze unter dem Tisch. Das Radio läuft. Ich sitze unter dem Tisch und fresse Lieder, die in anderen Sprachen freie Welten sind.
Beam me up, life.
Geborgte Leben: Ich sitze unter dem Tisch und lese.
Ich lerne: Erkennen, was der andere fühlt, bevor er selbst es noch weiß. Es ist wie Feuermachen (Innenfeuer, Gedankenfeuer). Eine Überlebenskunst.
Jahrelang fürchte ich mich davor, Hals über Kopf flüchten zu müssen. Spät erst lerne ich, dass auch andere Erinnerungen kennen, die nicht ihnen gehören, doch durch ihre Träume spuken. Spät erst wird deutlich: meine Eltern sind Kriegskinder.
Ich bin ein Nebelkind.
Zusammen haben wir die -losigkeit.
Mit siebzehn sitze ich in Mathematikvorlesungen. Formeln sind anders von Historie affiziert als Geschichten. In der Mathematik sehe ich, wie aus Erfindungen Wirklichkeiten werden, wenn Materie antwortet. Wirklichkeiten bestehen aus Wiederholungen, Körpern und Raum.
Ich mache Abitur. Schneidet man einem Seestern ein Glied ab, wächst ein neuer Seestern aus diesem Glied. Was wächst in der Lücke einer Geschichte? Mutter erleidet einen nervösen Zusammenbruch: das Fernsehen ist da und verwüstet das Wohnzimmer, in dem inzwischen Möbel stehen. Ich bin erwachsen. Ich habe Angst vor mir selbst.
Dank eines Stipendiums stoße ich auf andere, die mir gleichen. Der eine antwortet auf Fragen mit fünfzehn Minuten Verzögerung, weil er Möglichkeitsbäume der Antworten und aller auf sie vorstellbaren Reaktionen auf sie im Kopf bildet. Ich werde nach Oxford geschickt, sitze am Tisch, fresse Sprache. Lautgabe. Seither liegt das Englische unter dem Deutschen, das Deutsche unter dem Englischen.
Im Sommer 1989 fängt es an. Raum zwei, untergegangen mit dem Tod der Großeltern, bewegt sich, Neu, mutig, bis eben unvorstellbar. Er nimmt mich in An-Spruch.
Lautgabe: Elf Jahre übe ich. Flüstere in die Stille über dem Blau. Ich kann nicht Schriftstellerin werden. Schriftsteller sind männlich und tot. Meine Herkunft verbietet es noch einmal.
Mein Nachname ist ein Anagramm auf Andreas. Ein altes Fluchtversteck. Zudem ein Stück Sprache, das man anders ausspricht, als die Orthographie suggeriert. Nichts passt, alles schlittert, hätten meine Eltern bemerkt, dass in Ulrike paronomastisch, samt i und Tüpfelchen, die Lyrik steckt, hätten sie sofort einen anderen Namen gewählt. Doch: eine Grenze ist kein Strich, sondern ein Raum. Ich bin 31 Jahre alt, als ich es entdecke. Der Wald wächst weiter in mir. Ich lerne, dass ich mich selbst als etwas Unverstandenes, Vorläufiges behandeln darf. Ich akzeptiere, das sich etwas Linkshändiges, Unpassendes, mehrsprachig Verschobenes, unterm Tisch Hockendes, Registrierendes bleiben werde. Um darüber zu sprechen, wie wirklich ist, was man an den Rändern und in den Lücken des Sprechens hört/sieht. Wie sprach-körperlich etwas weitergegeben wird zwischen den Generationen. Wie man sprechen könnte, was man nicht begreift als Mensch, als Kinderpaket, um am Ende einer Spindel gleich einen Hügel hinunterzurollen, das Gras zu riechen und, sich schüttelnd, wieder aufzustehen – zum ersten Mal wirklich aufzustehen: mit Sternen im Kopf, die es – gibt.
Lautgabe.
Darauf, ihre Bedingungen, ihre Möglichkeiten, ihre Ergebnisse mit Ihnen zu teilen, freue ich mich.